Antifa-AG der Uni
Hannover:
Die
Frage, was von Sharons angeblich geplantem Rückzug aus dem Gaza-Streifen zu
halten ist, welche Strategie und Taktik dahinter steckt, beherrscht nach wie
vor die aktuelle Palästina-Diskussion. Die linke italienische Tageszeitung „il
manifesto“ stellte für die Ausgabe vom 2.6.2004 diese und andere
Fragen zur israelischen Politik Baruch Kimmerling, der zu den schärfsten
Kritikern der Sharon-Regierung und der israelischen Besatzungspolitik zählt.
Kimmerling ist Professor für Soziologie an der Hebräischen Universität
Jerusalem und Gastprofessor an der Universität Toronto (Kanada). Er wurde 1939
in Rumänien geboren, kam 1952 nach Israel und schreibt neben seiner
wissenschaftlichen und Lehrtätigkeit regelmäßig für die bekannte israelische
Tageszeitung „Ha’aretz“. Politisch bezeichnet er sich selbst als „israelischer
Patriot“, kritisiert Shimon Peres’ Awoda (Arbeitspartei), die
linkssozialdemokratische Meretz und die Peace Now-Bewegung jedoch sehr
entschieden von links, auch wenn er dem bürgerlich-kapitalistischen System
verhaftet bleibt, wie auch sein am Schluss dieses Interviews geäußerter
Vorschlag ein multikulturelles (statt zionistisches) Israel und einen
souveränen palästinensischen Staat in die EU und ihr „Verteidigungssystem“
aufzunehmen, zeigt.
Gleichwohl
sind seine Positionen – gemessen an dem was in weiten Teilen der deutschen
Restlinken vertreten wird – geradezu linksradikal und subversiv. Insbesondere
angesichts sogenannter „Antideutscher Kommunisten“ oder angeblicher
„Anti-Nationaler“, die sich bei näherem Hinsehen als schlichte Rechtsliberale
und Anhänger (zum Teil nicht mehr nur) des israelischen Kolonialismus
entpuppen.
Das im
Vorspann von Michelangelo Cocco erwähnte Buch Baruch Kimmerlings ist unter dem
Titel „Politizid – Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk“ auch in
deutscher Sprache erhältlich (Diederichs-Verlag, München 2003, 224 Seiten,
19,95 Euro).
Die politische Eliminierung der
Palästinenser
Es spricht der israelische Soziologe
Baruch Kimmerling: Der Rückzug aus Gaza ist nur eine Täuschung.
Michelangelo Cocco
Als Soziologie-Professor an
der Hebräischen Universität von Jerusalem ist Baruch Kimmerling eine der
kritischsten Stimmen innerhalb der israelischen Debatte. Als Autor zahlreicher
Veröffentlichungen hat er – in seinem letzten Buch („Politicidio“, Fazio 2003)
– Sharons Politik gegenüber den Palästinensern als „politicidio“
(Politizid), einen „Prozess der als letztendliches Ziel die Auflösung des
palästinensischen Volkes als legitimer Einheit auf der sozialen, politischen
und wirtschaftlichen Ebene hat“, bezeichnet.
Professor Kimmerling, was
geht derzeit in Israel vor ? Befindet
sich Sharons Macht in der Krise ?
Die Regierung scheint nicht
die Absicht zuhaben über den vom Ministerpräsidenten vorgeschlagenen
Entsetzungsplan abzustimmen. Es kann sein, dass Sharon darauf verzichtet, ihn
einer Abstimmung zu unterziehen. Jedenfalls gibt es keinen Zweifel, dass der
Premier sehr viel Macht verloren hat. Zum wirklichen starken Mann ist in der
letzten Zeit Netanyahu (der Finanzminister; Anm.d.Redaktion) geworden.
Dennoch muss daran erinnert werden, dass Sharons gesamtes politisches Leben
Hochs und Tiefs aufwies. Deshalb könnte er auch diesen Moment überleben. Vor
allem weil – auch wenn es im Likud eine alternative Führerfigur (Netanyahu)
gibt – die Partei keine politische Alternative hat.“
Wie ordnet sich der
Rückzug aus Gaza in das ein, was Sie als „politicidio“ (politische
Eliminierung) der Palästinenser bezeichnet haben ?
„Die erste Phase der
politischen Eliminierung war militärisch und begann am 29.März 2002 mit der
Operation ‚Verteidigungsschild’, mit dem Ziel, nicht nur die Organisation der
palästinensischen Sicherheitskräfte zu zerstören, sondern hauptsächlich die
Grundlagen der Autorität / Autonomiebehörde von Arafat zu beseitigen. Während
dieser militärischen Phase der politischen Eliminierung gewann Sharon eine
immense Popularität unter den Juden – egal ob sie Israelis waren oder nicht.
Dann, nachdem er praktisch jegliche Fähigkeit der Palästinenser zum Widerstand
zerstört hatte, hat Sharon die politische Phase seines politischen
Eliminierungsprojektes begonnen und sie ‚Entsetzungs’-Plan genannt. Sharon ist
ein Pragmatiker und er ist sich, trotz seiner anfänglichen Absichten <in dieser Richtung> bewusst, dass die internationalen Rechtsnormen
keinen Spielraum weder für eine ethnische Säuberung auf breiter Front noch für
die Verwandlung des haschemitischen Königreiches Jordanien in einen
Palästinenserstaat lassen. Also lautet sein Plan, alle Kolonien in Gaza und
vier kleine Siedlungen in der West Bank abzubauen. Im Austausch für den Rückzug
der 7.500 settler aus Gaza hat Sharon von Präsident Bush und von seiner
eigenen Partei, dem Likud, verlangt, die dauerhafte Präsenz der wichtigsten
jüdischen Siedlungsblöcke in Cisjordanien (ca. 95.000 Siedler) zu
unterstützen.“
Der „Entsetzungsplan“ und
die „Sicherheitsbarriere“ beherrschen die politische Debatte in Israel. Wann
wird es möglich sein wieder mit den Palästinensern über Frieden zu sprechen ?
„Unter den gegenwärtigen
Umständen: niemals. Sharons Sichtweise („Vision“) des Konfliktes ist klar. Er
hat erklärt, dass Israel, dank der von Bush vorgeschlagenen Road Map, in der
West Bank ein an das palästinensische Territorium angrenzendes Gebiet schaffen
will, das es den Palästinensern erlauben würde, von Jenin nach Hebron zu
reisen, ohne an einer israelischen Straßenblockade oder einem check point
vorbeizukommen. Ein separates Gebiet mit Mauern in Richtung Israel und den
jüdischen Siedlungsblöcken. Seine ‚Vision’ ist klar. Der ‚palästinensische
Staat’ wird aus 4 oder 5 Enklaven um Gaza, Jenin, Nablus und Hebron herum
gebildet, ohne territoriale Kontinuität. Der Plan, diese Enklaven durch Tunnel
und Brücken miteinander zu verbinden, bedeutet, dass es eine starke israelische
Militärpräsenz in vielen Gebieten
Cisjordaniens geben wird. Das ist vergleichbar mit Gaza, wo Israel nach
der ‚Entsetzung’ die Kontrolle über die Grenzübergänge, den Luftraum und das
Seegebiet behalten wird. Im Vergleich dazu erscheinen die sudafrikanischen Bantustans
wie Symbole der Freiheit.“
Die „Sicherheitsbarriere“
scheint die Sicherheitsprobleme gelöst zu haben. Seit mehreren Monaten hat es
innerhalb des jüdischen Staates keine Anschläge mehr gegeben…
„Die Barriere kann als
physische Trennung keinen vollständigen Schutz gegen diesen Guerillakrieg
gewähren. Sie kann eine Hilfe sein, aber nur auf marginale Weise, weil ein sehr
entschlossener und motivierter Guerillakämpfer, wie ein Selbstmordattentäter,
jede physische Trennung überwinden kann. Die Mauer funktioniert eher als ein
psychologisches Heilmittel für die öffentliche Meinung in Israel.“
Sie haben die
wirtschaftlichen Schäden verdeutlicht, die die 2.Intifada in der israelischen
Wirtschaft verursacht. Wie erklären sich die Wachstumszahlen des letzten
Quartals (über 4%) ? Funktioniert
Netanyahus Rezept ?
„Das sind Zahlen, die in die
Irre führen. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich verringert worden, aber die
Armut hat zugenommen. Das, was Netanyahu in Gang gebracht hat, ist ein sehr
ungleicher Prozess. Er hat viele staatliche Unternehmen privatisiert, was die
Reichen noch reicher gemacht hat, während es die Armen, aber auch einen großen
Teil der Mittelklasse noch ärmer gemacht hat. Es handelt sich um eine neokonservative
Wirtschaft, die auf dem Waffenexport basiert.“
56 Jahre nach der
Gründung des jüdischen Staates hat Israel das erste arabische Mitglied des
Obersten Gerichtshofes. Wenige Tage nach der historischen Wahl hat der
Gerichtshof die Zerstörung Hunderter Häuser in Gaza genehmigt. Was bedeutet das
?
„Das bedeutet, dass ein
arabisches, aber auch hochgradig angepasstes, Mitglied des Obersten
Gerichtshofes nur einen symbolischen Akt der Versöhnung zwischen den Bürgern
des Staates darstellt, aber nichts an der jüdisch ausgerichteten Tradition des
Gerichtshofes bei den sog. ‚Sicherheitsproblemen’ ändern kann.“
Welcher jüdische Staat
ist in einer Nation möglich, in der sich die Anzahl der Araber schneller erhöht
als die der Juden und wo – wie jüngst eine Umfrage gezeigt hat – die
Jugendlichen jedes Mittel nutzen, um den Wehrdienst zu vermeiden ?
„Ein multikultureller Staat
innerhalb der Grenzen von 1967, der mit seinen arabischen Nachbarn in Frieden
lebt, darunter ein souveräner palästinensischer Staat an seiner Seite. Dieser
und der palästinensische Staat sollten Mitglieder der Europäischen Union und
ihres gemeinsamen Verteidigungssystems werden.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover