Antifa-AG der Uni Hannover:
Der Sekretär von Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, äußerte
sich in einem Interview mit der linken italienischen Tageszeitung “il
manifesto” vom 12.8.2001 zu den weiteren Perspektiven der
Anti-Globalisierungs-Bewegung nach Genua und der Position Rifondaziones zur
Demonstration gegen den NATO-Gipfel Ende September in Neapel, die von den
gemäßigtesten Teilen der Bewegung mehr oder minder offen abgelehnt
wird:
“Das Engagement für
Neapel”
Fausto Bertinotti: Neapel wird nicht Genua sein.
Es geht um “das Zusammentreffen von Bewegung und neuer Arbeitskraft”.
Benedetto Vecchi
“Das ist eine Bewegung von langer Dauer, keine bloße Kräuselung”
<des Wassers>. So beginnt Fausto Bertinotti seine Reflektion über
die Gegenwart und die Zukunft der “Bewegung der Bewegungen”. Seine Worte
sind wohl erwogen. Sie fragen nach und befragen sich über das, was auf
dem Spiel steht (die Krise der Demokratie und das Wachstum der Bewegung)
und akzeptieren dabei jene “Beziehungs-Praxis”, die eine Partei wie Rifondazione
Comunista als einen Bestandteil wie die anderen Teile der Bewegung sieht.
Der Anschlag auf das Gericht von Venedig hat die Büchse der Pandora
der Interpretationen über diejenigen geöffnet, die die Verantwortlichen
sein können. Das “Klima” ist sicher nicht das beste...
“Der Anschlag von Venedig ist ein Angriff auf diese Bewegung. Ich will jedoch
den in der öffentlichen Diskussion, die sich um eine angebliche Rückkehr
zu den ‚bleiernen Jahren‘ dreht, vorherrschenden Ton nicht ignorieren. Man
geht von den unterstellten Gewalttaten der Demonstranten in Genua aus, um
dann zu der Bombe von Venedig zu kommen. Das sind die Fakten, die verbunden
werden und die ein Klima für die Große Koalitions-Lösung
bei der Regelung der öffentlichen Ordnung schafft. Eine gefährliche
Lösung, die das Verschwinden der Mitte-Links-Opposition im Parlament
verdeutlicht.”
Die nächsten Termine dieser Bewegung sind der NATO-Gipfel in Neapel,
der <traditionelle Friedens- etc.> Marsch von Perugia nach Assisi und
die Konferenz der <Welternährungsbehörde> FAO in Rom. Was
Neapel anbelangt, scheint ein medialer Mechanismus am Werk zu sein, der das
Auseinandersetzungs-Szenario von Genua reproduziert.
“Die Bewegung steht vor vielen Problemen, darunter das der Handlungsfähigkeit
und ihres Wachstums. Man muß nicht von der Forderung, daß der
Gipfel nicht stattfinden soll, zu einer Verhinderung abgleiten. Diese Bewegung
- das sage ich als Führer einer Partei, die ein Bestandteil der Bewegung
wie die anderen Teile ist - muß darauf ausgerichtet sein, pfleglich
mit sich selbst umzugehen. Das heißt sie muß die Logik des Zusammenstoßes
vermeiden und darauf abzielen zu wachsen und ihre Fähigkeit zur Initiative
und zur Macht<ausübung> in der Gesellschaft auszuweiten. Was Rifondazione
Comunista angeht, so werden wir uns dafür einsetzen, besser gesagt die
Partei dazu verpflichten, daß der Gipfel annulliert wird. Und wenn
dies nicht geschieht, werden wir nach Neapel gehen, damit sich das genuesische
Szenario nicht wiederholt.”
In den Gruppen, Vereinigungen und Basisgewerkschaften, die sich in der
Erfahrung des Genoa Social Forum (GSF) wiedererkannt haben, hat eine karstige
und oftmals chaotische Diskussion begonnen. Einige sprechen und schreiben
vom Ende des zivilen Ungehorsams, andere vertreten die Auffassung, daß
die “Bewegung sich auf dem Territorium verwurzeln muß”. Wie denkst
Du darüber ?
“Das Thema ist zweifellos die Kontinuität und die Entwicklung der Bewegung.
Ich bin meinerseits der Meinung, daß die Frage der Entwicklung und
des Wachstums der Bewegung zu stellen, bedeutet von etwas auszugehen und
das ist dieses ‚etwas‘. Nehmen wir die Definitionen, mit denen sie qualifiziert
worden ist: die Völker von Seattle oder die glückliche Formel von
der ‚Bewegung der Bewegungen‘. Beides Ausdrücke, die auf eine Vielfalt
von Subjektivität und ein Milieu kritischer Kulturen anspielen, die
die Kritik an dieser neoliberalen Globalisierung als gemeinsames Element
haben.
Ein anderer Aspekt, der für mich wichtig ist, ist ihre altersmäßige
Charakteristik. Es wäre zu sagen, daß sie das Auftreten einer
Generation darstellt, die in ‚der kapitalistischen Revolution‘ aufgewachsen
ist und die mit der Materialität der neoliberalen Globalisierung abrechnet.
Ein kleiner Einschub: Auch ich bin von den Demonstrationen der Metallarbeiter
betroffen gewesen: derselbe Look und dieselben Verhaltensweisen, die ich
in Genua sehen konnte. Schlußendlich: Es ist eine Protestrealität,
aber es ist keine Kräuselung <des Wassers> und auch keine Welle,
sondern eine tiefgehende Antwort auf eine ‚kapitalistische Revolution‘, die
tiefgehend gewirkt hat.”
Kommen wir zum Vorschlag, die Erfahrung der “Sozialforen” in den Städten
auszudehnen. Wie beurteilst Du das ?
“Ich bin damit einverstanden. Aber unter der Bedingung, daß es nicht
zu Übereinkünften darüber kommt, wie eine Koordination zwischen
den verschiedenen Bestandteilen aussehen soll. Ich verstehe sie als ein Laboratorium
der Forschung und Diskussion und für politische Vorschläge auf
dieselbe Art wie ein ‚kollektiver Intellektueller‘. Jedoch nicht um die Differenzen
und die Pluralität der Kulturen und der kritischen Subjektivitäten
gegenüber der neoliberalen Globalisierung zu kasteien, sondern um sie
im Gegenteil zur Geltung kommen zu lassen. Hier muß die Praxis des
Beziehungen-Unterhaltens der Theorie vorangehen.”
Die transnationale Dimension der Bewegung ist offensichtlich. Glaubst
Du nicht, daß die Bewegung international ist, weil sie auf Versuche
einer weltweiten Steuerung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses antwortet?
“Da stimme ich zu. Der Ausgangspunkt ist der Prozeß der zu einer weltweiten
Steuerung der wirtschaftlichen Globalisierung tendiert - ein Gebiet, auf
dem die Bewegung ‚gezwungen‘ ist, sich <mit dem Gegner> zu messen.
Mit anderen Worten: die repräsentative Demokratie, d.h. der aus dem
20.Jahrhundert stammende Rahmen, in den man die kapitalistische Entwicklung
eingeschrieben hat, wird fortschreitend ausgehöhlt und durch imperiale
Organismen ersetzt, die in der Lage sind, ‚technische‘ Funktionen auszuüben,
deren Legitimation von ihrer ‚technischen‘ Spezialisierung herrührt.
Eine Art von Spaltung der Arbeit auf Grundlage derer es die NATO ist, die
sich mit dem Krieg beschäftigt, in Sachen Geld hingegen die Weltbank
interveniert, während die WTO die Regeln des Welthandels festlegt. Dieser
Aushöhlung der repräsentativen Demokratie setzt die Bewegung eine
Idee der direkter Demokratie entgegen. Sicher ist jedoch, daß diese
Ordnung von Problemen noch nicht vollständig ist.”
Die “neuen” Metallarbeiter sind im Innern eines Erdbebens herangewachsen,
das die Fabrik radikal verändert hat. Gleichzeitig ist die Generation,
die sich an der Bewegung beteiligt, in demselben Erdbeben herangewachsen.
Vielleicht müssen die Elemente, die sie gemeinsam haben, in dieser direkten
Erfahrung der neoliberalen Globalisierung gesucht werden.
“Die Verbindung zwischen diesen beiden Welten ist nicht eines der Probleme,
die nach Genua auf der Tagesordnung stehen. Es scheint mir das Problem zu
sein. Eine kurzsichtige Vorstellung von Bündnis, d.h. als Summe unterschiedlicher
Bestandteile, muß sicherlich abgelehnt werden. Ich schlage daher eine
andere Vorstellung von Bündnis vor, d.h. die Idee der Verbindungsstellen.
Es gibt tatsächlich ein Bindegewebe und das ist das zusammenhangloseste.
Ich beziehe mich auf die prekäre Arbeit, d.h. auf jene Bedingung zu
der alle verdammt sind und die die Verbindungsstelle zwischen den beiden
Welten darstellen kann. Ich erkläre es genauer: In der Vergangenheit
hat uns die Prekarität dazu geführt, analytische, theoretische
und politische Probleme in Angriff zu nehmen, die schwierig zu lösen
waren. Kleine Schritte sind auch vor Genua gemacht worden. Beginnen wir bei
dem, was erarbeitet wurde, d.h. bei den Vorschlägen des sozialen Lohns
<für Langzeitarbeitslose> oder des garantierten Mindestlohns.
In der jüngsten Vergangenheit wurden sie als Instrumente gesehen, um
- wie jemand sagte - Kontakt mit altem und neuem Proletariat aufnehmen zu
können. Ich bin davon überzeugt, daß jene Diskussion in den
Szenarien der Nach-Genua-Phase mit Macht zurückkehren werden. Und dennoch
bin ich davon überzeugt, daß wir der Bildung sozialer Figuren
gegenüberstehen, die wir in dem Sinne als proletarisch definieren können,
wie Walter Benjamin das in jenem Begriff getan hat, d.h. als durch eine Negation
gekennzeichnete soziale Subjektivität. Wenn wir sie dann zur altersmäßigen
Dimension ins Verhältnis setzen, können wir den Lichtkegel auf
das Verhältnis zwischen Arbeit und Leben erweitern, d.h. auf jenes Terrain,
das die Gelegenheit einer Verbindungsstelle zwischen dieser Bewegung und
der neuen Arbeitskraft bieten könnte.”
Es gibt diejenigen - vor allem die <unabhängigen linksradikalen
gewerkschaftlichen Basiskomitees> COBAS - die die Auffassung vertreten,
daß im Herbst der Wohlfahrtsstaat Konfliktterrain wird: die Schule
als Unternehmen, die Gesundheit als Ware und der vorhersehbare Angriff auf
die Renten sind nur einige Versatzstücke eines Puzzles das Nationalstaat
genannt wird, d.h. der politische Raum, in dem diese Bewegung gezwungen ist,
sich zu bewegen.
“Ich würde darauf mit einem ‚Ja, aber‘ antworten. Heute wird der nationale
Rahmen dazu benutzt, um das System sozialer Garantien zu demolieren, das
den Nationalstaat des 20.Jahrhunderts charakterisiert hat. Der Angriff richtet
sich gegen den fortschrittlichen Charakter, den die sozialen Bürgerrechte
gehabt haben. Auch <die Bewegung von> ’68 forderte neben anderen Dingen
einen neuen Wohlfahrtsstaat, weil sie ihn als etwas verstand, das der Kommerzialisierung
des Kapitalismus entzogen ist. Ich denke an den Sanitätsdienst, an die
150 Stunden. Jetzt sieht die Weltordnung die dem universalistischen Charakter
des Wohlfahrtsstaates innewohnende Vermittlung nicht mehr vor. Einverstanden
also mit ihrer Interpretation, aber nur wenn wir die gegenseitigen Abhängigkeiten
immer im Hinterkopf behalten, in die der Nationalstaat eingefügt ist.”
Vorspann, Übersetzung und Anmerkungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover