Antifa-AG der Uni Hannover:
Innerhalb all der gerade in der hiesigen Linken beim
Thema Israel / Palästina aufkommenden Hysterie und den pro-zionistischen (und
pro-imperialistischen!) Reflexen ist es immer wieder erfrischend Uri Avneris Gedanken zum Geschehen zu lesen, auch wenn wir
nicht immer und in jedem Punkt derselben Meinung sind. Eine solche, dringend
notwendige Dosis Aufklärung stellt auch sein folgender Artikel vom 18.7.2006
zur libanesischen Hisbollah und ihrem Generalsekretär Hassan Nasrallah dar. Wir
entnahmen die Zeilen des bekannten israelische Schriftstellers,
Journalisten und führenden Friedensaktivisten von Gush-Shalom,
Uri Avnery, dem ZNet
Deutschland (siehe: www.zmag.de).
Angefertigt wurde die Übersetzung von Ellen Rohlfs, die kontinuierlich und vom
Verfasser autorisiert, zentrale Texte von ihm übersetzt und auf seiner
deutschsprachigen Website http://www.uri-avnery.de/
veröffentlicht. Die italienische Übersetzung des folgenden Artikels erschien
übrigens am 21.7.2006 in der linken italienischen Tageszeitung „il manifesto“
unter dem Titel „Nasrallah, ultimo eroe
del Medioriente“ (Nasrallah, letzter Held
des Mittleren Ostens).
„Stoppt
diese Scheiße“
EINE FRAU, eine Immigrantin
aus Russland, wirft sich voller Verzweiflung vor ihr Haus, das von einer Rakete
getroffen worden war. Sie schreit in gebrochenem Hebräisch: „Mein Sohn, mein
Sohn!“ da sie glaubte, er sei tot. Tatsächlich war er nur verletzt und ins
Krankenhaus gebracht worden. Libanesische Kinder, am ganzen Körper verletzt, in
Beiruts Krankenhäusern. Die Beerdigung der Opfer einer Rakete in Haifa. Die
Ruinen eines völlig zerstörten Stadtviertels in Beirut. Bewohner aus dem Norden
Israels fliehen vor den Katjuschas nach Süden. Bewohner des südlichen Libanon
fliehen vor der israelischen Luftwaffe nach Norden.
Tod, Zerstörung. Unvorstellbares menschliches Leid.
Und der abscheulichste Anblick: George Bush sitzt in verspielter Stimmung auf
seinem Stuhl in Petersburg - über ihn gebeugt sein loyaler Diener Tony Blair,
um das Problem zu lösen: „Sieh, was die tun müssen, ist, die Syrer dahin zu
bringen, dass sie die Hisbollah dahin bringen, mit all der Scheiße aufzuhören –
dann wäre endlich Schluss damit.“
So sprach der Mächtigste der Welt – und die sieben Zwerge – „die Großen der
Welt“ – sagten Amen.
SYRIEN? DOCH erst vor wenigen Monaten war es Bush – ja derselbe Bush – der die
Libanesen zwang, die Syrer aus ihrem Land zu jagen. Nun will er, dass sie im
Libanon intervenieren und für Ordnung sorgen?
Vor 31 Jahren , als der libanesische Bürgerkrieg auf
seinem Höhepunkt war, sandten die Syrer – vor allem von den libanesischen
Christen eingeladen - ihre Armee in den Libanon . Zu jener Zeit verursachte der damalige Verteidigungsminister Peres und
seine Verbündeten eine Hysterie in Israel. Sie verlangten, Israel möge den
Syrern ein Ultimatum stellen, das sie daran hindere, die israelische Grenze zu
erreichen. Yitzhak Rabin, der Ministerpräsident, sagte damals zu mir, dass dies
reiner Unsinn sei, weil es das Beste für Israel wäre, wenn sich die syrische
Armee entlang der Grenze formieren würde. Nur dies könnte die Ruhe sicherstellen,
die gleiche Ruhe, die an der Grenze Israels zu Syrien herrscht.
Doch Rabin gab der Medienhysterie nach und stoppte die Syrer weit entfernt von
der israelischen Grenze. Das so geschaffene Vakuum wurde 1982 von der PLO
gefüllt. Ariel Sharon vertrieb die PLO – und das Vakuum füllte sich mit der
Hisbollah.
All dies, was sich dann dort ereignete, wäre nicht geschehen, wenn wir den
Syrern erlaubt hätten, von Anfang an die Grenze zu besetzen. Die Syrer sind
vorsichtig, sie handeln nicht leichtsinnig.
WAS HAT Hassan Nasrallah nur gedacht, als er entschied, die Grenze zu
überqueren und eine Guerilla-Aktion durchführen zu lassen, die den
augenblicklichen Hexensabbat verursacht? Warum hat er es getan? Und warum zu
diesem Zeitpunkt?
Jeder hält Nasrallah für eine kluge Person. Er ist auch besonnen. Seit Jahren
hat er einen großen Vorrat an Raketen aller Art angelegt, um eine Art
Terrorbalance herzustellen. Er wusste, dass die israelische Armee nur auf die
Gelegenheit wartete, sie zu zerstören . Trotzdem hat
er eine Provokation ausgeführt, die der israelischen Regierung den perfekten
Vorwand lieferte, den Libanon anzugreifen – mit dem vollen Einverständnis der
Weltgemeinschaft. Warum?
Möglicherweise war er vom Iran und von Syrien, die ihn mit Raketen ausstatten,
aufgefordert worden, etwas zu tun, um den amerikanischen Druck von ihnen
abzulenken. Und tatsächlich hat die plötzliche Krise die Aufmerksamkeit von den
iranischen Bemühungen im Nuklearbereich abgelenkt. Und es scheint, Bushs
Haltung habe sich gegenüber Syrien verändert.
Aber Nasrallah ist weit davon entfernt, eine Marionette des Iran oder von
Syrien zu sein. Er führt eine echte libanesische Bewegung an und kalkuliert
seine eigene Bilanz des Für und Wider. Wenn er vom Iran oder von Syrien
angefragt worden wäre, etwas zu tun – wofür es aber keinen Beweis gibt – und er
gesehen hätte, dass dies nicht mit den Zielen seiner Bewegung übereinstimmt,
dann hätte er es nicht getan.
Vielleicht handelte er aus innerpolitischen Gründen. Das libanesische politische
System war stabiler geworden, und es war schwieriger geworden, den
militärischen Flügel der Hisbollah zu rechtfertigen. Ein neuer bewaffneter
Vorfall hätte helfen können. ( Solche Betrachtungen
sind uns keineswegs fremd, besonders nicht vor Budget-Debatten).
Aber all dies erklärt nicht den Zeitpunkt. Nasrallah hätte einen Monat vorher
oder einen Monat später handeln können , ein Jahr
vorher oder später. Es muss einen driftigeren Grund
gegeben haben, der ihn davon überzeugte, genau jetzt in solch ein Abenteuer zu
schliddern.
Und tatsächlich diesen Grund gab es: Palästina.
Vor zwei Wochen begann die israelische Armee einen Krieg gegen die Bevölkerung
des Gazastreifens. Auch dort war der Vorwand eine Guerillaaktion, in der ein
israelischer Soldat gefangen genommen wurde. Die israelische Regierung packte
die Gelegenheit beim Schopfe und führte einen seit langem vorbereiteten Plan
aus: den Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen und die neu gewählte
palästinensische Regierung zu zerstören, die von der Hamas dominiert wird. Und
natürlich auch um die Qassams zu stoppen.
Die Operation im Gazastreifen ist eine besonders brutale – und so sieht es auch
auf den Bildschirmen in aller Welt aus. Schreckliche Bilder aus dem
Gazastreifen erscheinen täglich und stündlich in den arabischen Medien. Tote,
Verletzte, Zerstörung . Wassermangel, fehlende Medikamente für die Verwundeten
und Kranken. Ganze Familien getötet. Kinder schreien in Agonie. Mütter weinen.
Gebäude stürzen in sich zusammen.
Die arabischen Regime, die alle von Amerika abhängig sind, kommen nicht zu
Hilfe. Da sie alle von islamischen Oppositionsbewegungen bedroht sind, schauen
sie mit einiger Schadenfreude zu, was gegenüber der Hamas geschieht. Aber 10
Millionen Araber vom Atlantik bis zum Persischen Golf sehen zu, regen sich auf
und werden über ihre Regierung wütend, schreien nach einem Führer, der den
belagerten und heldenhaften Brüdern in Palästina zu Hilfe eilt.
Vor 50 Jahren schrieb Gamal Abdel-Nasser, der neue
ägyptische Führer, dass eine Rolle auf einen Helden wartet. Er entschied,
selbst dieser Held zu sein. Jahrelang war er das Idol für die arabische Welt,
Symbol für die arabische Einheit. Aber Israel nützte eine Gelegenheit und
stürzte ihn im Sechs-Tage-Krieg . Danach stieg Saddam
Husseins Stern am arabischen Horizont auf. Er wagte es, sich gegen das mächtige
Amerika zu stellen und Raketen auf Israel abzuschießen – und wurde so der Held
der arabischen Massen. Aber er wurde vernichtend und in demütigender Weise von
den Amerikanern, die von Israel angespornt wurden, geschlagen.
Vor einer Woche sah sich Nasrallah derselben Versuchung gegenüber. Die
arabische Welt schrie nach einem Helden und er reagierte: Hier bin ich. Er
forderte Israel und indirekt auch die US und die ganze westliche Welt heraus.
Er begann den Angriff ohne Verbündete und wusste, dass weder der Iran noch
Syrien es riskieren würden, ihm zu helfen.
Vielleicht wird er fortgerissen wie Abd-el-Nasser und
Saddam vor ihm. Vielleicht hat er die Gewalt des Gegenangriffes, den er erwartete,
unterschätzt. Vielleicht glaubte er wirklich, dass unter dem Gewicht seiner
Katjuscha-Raketen Israels Etappe zusammenbrechen würde (So wie die israelische
Armee glaubte, die israelische Zerstörung würde das palästinensische Volk im
Gazastreifen und die Schiiten im Libanon zerbrechen) .
Eines ist klar: Nasrallah hätte diese Gewaltspirale nicht begonnen, wenn die
Palästinenser ihn nicht um Beistand gebeten hätten. Aus kühler Berechnung oder
aus wahrer moralischer Entrüstung oder wegen beidem – Nasrallah eilte zur
Rettung des belagerten Palästinas.
DIE ISRAELISCHE Reaktion hätte man erwarten können. Seit Jahren warten die
Armeekommandeure auf eine Gelegenheit, das Raketenarsenal der Hisbollah zu
vernichten und diese Organisation zu zerstören oder sie wenigstens zu
entwaffnen und sie sehr weit weg von der israelischen Grenze zu befördern. Sie
versuchten dies auf die einzige ihnen bekannte Weise: durch weitreichende
Zerstörung, damit die libanesische Bevölkerung aufsteht und die Regierung
zwingt, Israels Forderungen zu erfüllen.
Werden diese Ziele erreicht?
HISBOLLAH IST die authentische Vertretung der schiitischen Gemeinschaft, die
etwa 40% der libanesischen Bevölkerung ausmacht. Zusammen mit den andern
Muslimen bilden sie die Mehrheit im Land. Der Gedanke, dass die schwächliche
libanesische Regierung, die auf jeden Fall auch die Hisbollah einschließt, in
der Lage wäre, diese Organisation zu liquidieren, ist lächerlich.
Die israelische Regierung verlangt, die libanesische Armee solle an der Grenze
entlang aufmarschieren. Dies ist jetzt zu einem Mantra
geworden. Es zeugt von totaler Ignoranz. Die Schiiten haben bedeutsame
Positionen in der libanesischen Armee inne. So gibt es überhaupt keine Chance,
dass sie einen Bruderkrieg gegen sie beginnen werden.
Im Ausland nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an: eine internationale Truppe
sollte entlang der israelisch-libanesischen Grenze aufgestellt werden . Die israelische Regierung ist strickt dagegen. Eine
wirklich internationale Truppe – nicht wie die unglückliche UNIFIL, die seit
Jahrzehnten dort ist – würde die israelische Armee daran hindern, das zu tun,
was sie will. Außerdem: sollte sie dort ohne das Einverständnis der Hisbollah
aufgestellt werden, würde ein neuer Guerillakrieg gegen sie beginnen. Würde solch
einer Truppe – ohne wirkliche Motivation – das gelingen, was der mächtigen
israelischen Armee nicht gelungen ist?
Dieser Krieg mit seinen Hunderten von Toten und Zerstörungswellen wird
höchstens zu einem anderen zerbrechlichen Waffenstillstand führen. Die
israelische Armee wird den Sieg ausrufen und behaupten, sie habe die
„Spielregeln“ verändert. Nasrallah (oder seine Nachfolger) werden behaupten,
ihre kleine Organisation habe sich gegen eine der mächtigsten Militärmaschinen
der Welt erhoben und ein weiteres leuchtendes Kapitel über Heldentum in den
Annalen der arabischen und muslimischen Geschichte geschrieben.
Es wird keine richtige Lösung geben, weil die Wurzel des Übels nicht angegangen
wird: das palästinensische Problem.
VOR VIELEN JAHREN hörte ich im Radio eine der Reden von Abd-el-
Nasser, die er vor einer großen Menschenmenge in Ägypten hielt
. Er verbreitete sich über die Errungenschaften der ägyptischen
Revolution, als Schreie aus der Menge kamen: „Palästina oh, Gamal!“
Daraufhin vergaß Nasser über sein angefangenes Thema zu reden und sprach mit
wachsender Begeisterung über Palästina.
Seit damals hat sich nicht viel verändert. Wenn die palästinensische Sache
erwähnt wird, wirft sie ihre Schatten über alles andere. Genau dies geschah
jetzt auch.
Jeder, der sich nach einer Lösung sehnt, muss wissen: es gibt keine Lösung,
ohne die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Und es gibt keine
Lösung des palästinensischen Problems ohne Verhandlungen mit der gewählten
Regierung, einer Regierung, der die Hamas vorsteht.
Wenn jemand ein für alle mal diese Scheiße – wie Bush so delikat formulierte –
beenden will, dann geht es nur auf diese Weise.
Übersetzung: Ellen Rohlfs
Vorbemerkung:
Antifa-AG
der Uni Hannover