Antifa-AG der Uni Hannover:
Beim Thema Israel / Palästina ist
eine krass gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Während sich in Deutschland
und zum Teil auch in Österreich und anderen westeuropäischen Ländern zahlreiche
Linke (oder die, die sich dafür halten) krampfhaft an den Mythen des Staates
Israel festklammern und ihn trotz seines staatsterroristischen und Kolonialcharakters
und des von ihm ins Leben gerufenen Apartheidsystems zum „verteidigenswertesten
aller Staaten“, zur „einzig sicheren Fluchtburg aller verfolgten Juden“, zum „Staat
der Aufklärung“ und zur „einzigen Demokratie im Mittleren Osten“ verklären,
geschieht unter führenden linken und linksliberalen, jüdischen und israelischen
Intellektuellen genau das Gegenteil. In der israelischen Realität lebend oder
zumindest eng mit ihr verbunden und unter dem Eindruck der massiven sozialen
und politischen Krise Israels stehend, denunzieren sie in scharfer Form die
Tatsachen und legen schonungslos deren Ursachen dar. So auch Avi Shlaim, Professor
für Internationale Beziehungen am St.Antonys College
in Oxford (Großbritannien) und Autor des Buches „The
Iron Wall: Israel and the Arab
World“. Avi Shaim zählt wie
Ilan Pappe, Baruch Kimmerling
u.a. zu den sog. „postzionistischen“ oder „neuen
Historikern“ Israels. Im Rahmen einer öffentlichen Debatte am 25.Januar 2005 im Londoner „Intelligence
Squared“-Forum hielt Avi
Shlaim ein viel beachtetes Kurzreferat zur aktuellen
Rolle des Zionismus, wobei er die ablehnende und (was wenig überraschen kann)
der ehemalige israelische Außenminister Shlomo
Ben-Ami die befürwortende Position bezog. Avi Shlaims Position wurde durch Redebeiträge von Jacqueline Rose und der bekannten „Haaretz“-Journalistin Amira Hass
unterstützt. Ben-Ami erhielt Rückendeckung von Melanie Phillips and Raphael Israeli. Am Ende der Debatte stimmte
das Publikum ab. 355 Anwesende sprachen sich für Shlaims
Thesen aus, 320 für Be-Amis und 40 enthielten sich.
Avi Slaims Diskussionsbeitrag wurde zuerst am 4.2.2005 in der „International Herald Tribune“ veröffentlicht und noch am selben Tag (mit ausdrücklicher Billigung des Autors
auch auf der sehr empfehlenswerten Palästina-Solidaritätsseite „The Electronic Intifada“ – http://electronicintifada.net). Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte am 8.2.2005 eine deutsche Übersetzung, die
wir hier unter der direkten Überschrift der englischen Originalversion
wiedergeben, auch wenn wir Avi Shlaims
ganz am Anfang vorgetragene Definition des Zionismus als einer „nationalen
Befreiungsbewegung“ nicht teilen. Unsere Einschätzung des Zionismus deckt sich
vielmehr mit derjenigen, die revolutionäre Linke, wie der jüdisch-stämmige
Marxist und oppositionelle Kommunist August
Thalheimer bereits 1938 vertraten. In einem federführend von ihm verfassten
Grundsatzpapier für die Internationale
Vereinigung der Kommunistischen Opposition (IVKO), die sowohl den
ultralinken KPD-Kurs (Sozialfaschismustheorie, RGO-Politik
etc.) als auch ihren ab 1935 verfolgten Volksfront-Kurs ablehnte, heißt es
dazu: „Wir lehnen als Kommunisten den Zionismus prinzipiell ab. Warum? Weil
er real – von aller ideologischen Einkleidung abgesehen – nichts anderes
ist und unter den gegebenen Verhältnissen nichts anderes sein kann als ein imperialistisches
Kolonialunternehmen.“ (siehe „Arbeiterpolitik“ Nr.1/2-2005, www.arbeiterpolitik.de) Dennoch und
auch wenn er Israels Kompromissbereitschaft beim Oslo-Prozess überschätzt, muss
man ganz klar festhalten, dass Avi Shlaims Thesen eine enorme Bereicherung der heutigen linken
Diskussion zum Thema Israel und Zionismus darstellen.
Warum Zionismus heute
der wahre Feind der Juden ist
Der Zionismus ist die
nationale Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes und der Staat Israel ist
seine politische Verwirklichung. Israel war Symbol für die Freiheit und Quell
des Stolzes für Juden in der Diaspora. Doch Israels Misshandlung der
Palästinenser hat das Land zu einer Belastung und moralischen Bürde für den
liberalen Teil der jüdischen Gemeinschaft gemacht. Manche Juden, besonders aus
linken Kreisen, würden noch weiter gehen und Israels Verhalten mit dem
weltweiten Erstarken des neuen Antisemitismus in Verbindung bringen.
Das zugrunde liegende
Problem ist Israels illegale Besetzung der palästinensischen Gebiete seit 1967.
Diese verwandelte die zionistische Bewegung von einer legitimen nationalen
Befreiungsbewegung der Juden in eine Kolonialmacht und Unterdrückerin der
Palästinenser.
Mit heutigem Zionismus meine
ich die ideologischen, ultranationalistischen Siedler und ihre Unterstützer in
der vom Likud geführten Regierung. Diese Siedler sind eine winzige Minderheit,
aber sie halten das politische System Israels im Würgegriff. Sie repräsentieren
die inakzeptable Seite des Zionismus. Zionismus ist nicht mit Rassismus gleichzusetzen,
aber viele dieser radikalen Siedler und ihrer Anführer sind unverhohlene
Rassisten: Ihr Extremismus und ihre Exzesse haben manche Leute dazu gebracht,
nicht nur das zionistische koloniale Projekt außerhalb der Grenzen von 1967 zu
hinterfragen, sondern auch die Rechtmäßigkeit des Staates Israel innerhalb
dieser Grenzen. Und es sind diese Siedler, die auch die Sicherheit und das Wohl
der Juden überall auf der Welt gefährden.
Der Mann der
Zwietracht
Premierminister Ariel Sharon
personifiziert diesen fremdenfeindlichen, exklusiven, aggressiven und
expansionistischen Zweig des Zionismus. Eine der größten Auszeichnungen im
Judentum ist es, ein rodeph shalom, ein
Friedensstifter genannt zu werden. Als ein solcher kann Sharon auch unter
größten geistigen Verrenkungen nicht bezeichnet werden. Er ist ein Mann des
Krieges und ein Verfechter gewaltsamer Lösungen.
Sharons Ziel ist der Politizid, den Palästinensern also jegliche unabhängige
politische Existenz in Palästina zu verweigern. Sein Plan für den Abzug aus
Gaza nennt sich „unilateraler Rückzugsplan“. Dies ist kein Friedensplan,
sondern das Vorspiel für Israels Annektierung großer Teile des
Westjordanlandes. Sharon, dieser Unilateralist par excellance, ist ein jüdischer Rambo –
die Antithese zu traditionellen jüdischen Werten wie Wahrheit, Gerechtigkeit
und Toleranz.
Sharons Regierung führt
einen grausamen Krieg gegen das palästinensische Volk. Ihre Methoden umfassen
die Konfiszierung von Land; die Zerstörung von Häusern; die Entwurzelung von
Bäumen; Ausgangs- und Straßensperren und 736 Checkpoints, die entsetzliche Not
hervorrufen; die systematische Missachtung der Menschenrechte der
Palästinenser; und den Bau einer illegalen Mauer im Westjordanland, einer Mauer,
bei der es mindestens so sehr um Landraub geht wie um Sicherheit.
Es ist dieser Zweig eines
grausamen Zionismus, welcher der wahre Feind all dessen ist, was vom liberalen
Israel und liberalen Juden außerhalb Israels noch übrig ist. Dieser Zionismus
ist der Feind, weil er die Flammen eines virulenten und manchmal gewalttätigen
Antisemitismus weiter anfacht. Israels Vorgehensweise ist die Ursache; Hass auf
Israel und Antisemitismus sind die Konsequenzen.
In den letzten Jahren ist
viel über „den neuen Antisemitismus“ geredet worden. Die Argumentation lautet,
kurz zusammengefasst, dass das Wiedererwachen des Antisemitismus wenig oder
nichts mit Israels Verhalten zu tun habe. Antizionismus, wird weiter
argumentiert, sei nur der Ersatz für den bösen, altmodischen Antisemitismus.
Mit solchen Beweisführungen
muss man sich auseinander setzen. Erstens: Was ist Antisemitismus? Isaiah
Berlin hat einen Antisemiten definiert als „jemanden, der Juden mehr hasst, als
es strikt notwendig ist“. Diese schelmische Definition hat den Vorteil, dass
sie auf jede Art Antisemitismus anwendbar ist, auf den alten wie auf den neuen.
Doch müssen wir über die
Etikette hinausschauen. Gibt es noch starken klassischen Antisemitismus? Ja.
Breitet sich Antisemitismus in Europa aus? Ja, und zwar auf alarmierende Weise.
Benutzen manche Leute den Antizionismus als einen seriösen Mantel für ihren verachtenswerten
Judenhass? Leider ebenfalls ja. Wie ist der Hass auf
Israel auf der einen und der Judenhass auf der anderen Seite in der Fabrikation
des neuen Antisemitismus zu gewichten? Ich weiß es nicht.
Ich weiß jedoch, dass eine
Menge anständiger Leute ohne jegliches antisemitisches Gepäck über Israel sehr
aufgebracht sind, und zwar weil es die Palästinenser unterdrückt. Man kommt
nicht um die Tatsache herum, dass sich die Einstellung zu Israel wegen der
Verlagerung des Staates in Richtung des Zionismus der extremen Rechten und der
radikalen Rabbis verändert hat. Während der Jahre des Osloer Friedensprozesses war
Israel ja der Liebling des Westens, weil es bereit war, sich aus den besetzten
Gebieten zurückzuziehen.
Israels heutiges Image ist
nicht deshalb negativ, weil es ein jüdischer Staat ist, sondern weil es ständig
die Normen des akzeptablen internationalen Verhaltens überschreitet. Und
tatsächlich wird Israel zunehmend als „Schurkenstaat“ angesehen, als ein
internationaler Paria und als eine Bedrohung für den Weltfrieden.
Diese Wahrnehmung von Israel
ist ein wesentlicher Faktor im jüngsten Wiedererstarken
des Antisemitismus in Europa und im Rest der Welt. In diesem Sinn ist der
Zionismus heute der wahre Feind der Juden. Es ist tragisch, dass ein Staat, der
nach dem Holocaust als Zufluchtshafen für das jüdische Volk errichtet wurde, nun
einer der unsichersten Orte der Welt ist, an dem Juden leben können. Israel
sollte sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, nicht um den Palästinensern
einen Gefallen zu erweisen, sondern sich selbst und den Juden weltweit – denn wie
Karl Marx einmal bemerkte, ein Volk, das ein anderes unterdrückt, kann auch
selbst nicht frei bleiben.
Übersetzung: Petra Steinberger