Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Amira
Hass ist die international bekannte und mit diversen Preisen ausgezeichnete
Korrespondentin der linksliberalen israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“ aus den
1967 besetzten palästinensischen Gebieten. Zuerst berichtete sie mehrere Jahre
lang aus dem Gaza-Streifen (ihre dortigen Erfahrungen, Gespräche und Analysen
erschienen in dem äußerst lesenswerten, auch in deutscher Sprache verfügbaren,
Buch „Gaza“) und nun aus Ramallah im Westjordanland. Anlässlich der Vorstellung
ihres neuesten Buches in italienischer Sprache führte die linke italienische
Tageszeitung „il manifesto“ für die Ausgabe vom 6.4.2005 das
folgende Interview mit ihr.
Interview:
Die Siedler der Apartheid
„Die Besetzung Palästinas ist das
Ergebnis der kolonialistischen Politik Israels.“ Es spricht die Journalistin
Amira Hass, die sich in Italien aufhält, um ihr Buch „Morgen wird es schlimmer“
zu präsentieren.
MICHELANGELO COCCO
Amira Hass zufolge „wird es
morgen schlimmer“, weil der jüdische Staat, während Israelis und Palästinenser
aufgehört zu haben scheinen, sich <gegenseitig>
umzubringen, fortfährt, Cisjordanien zu kolonisieren und es der 2.Intifada
nicht gelungen ist, den Weg zur Gründung eines unabhängigen Palästinas in den
Grenzen von 1967 zu ebnen. Die israelische Journalistin der Tageszeitung „Ha’aretz“
arbeitete zuerst im Gaza-Streifen und ist 1997 nach Ramallah umgezogen, wo sie
das Entstehen des bewaffneten Aufstandes erlebte, der am 29. September 2000
ausbrach. Sie befindet sich in Italien (am Donnerstag, den 7.April um 21 Uhr
wird sie im Haus der Kultur in Mailand sein), um ihr Buch zu präsentieren („Morgen
wird es schlimmer“, Fusi orari, 233 Seiten, 15 Euro), eine Sammlung von
Briefen, die aus Palästina für die Wochenzeitung „Internazionale“
verfasst wurden. Eine Reihe sehr kurzer Berichte, in denen die Hass Dutzende
Geschichten von normaler Besatzung und Widerstand erzählt. Diejenigen von
Tausenden palästinensischer Familien, deren Leben durch die israelischen
Restriktionen fast unmöglich gemacht wird und die sich dem Regime widersetzen,
ohne einen Schuss abzufeuern.
Können wir sagen, dass
die 2.Intifada beendet ist?
„Was ich sagen kann ist,
dass sie kein substanzielles Ergebnis erzielt hat. Das Scheitern dieser
Intifada haben wir vor Augen: Die israelische Siedlungsaktivität in
Cisjordanien geht weiter und wird beschleunigt. Das ist der Hauptmaßstab, um
diesen Aufstand zu beurteilen. 7.000 Juden werden aus Gaza evakuiert, aber die
israelische Regierung hat <bereits> den Bau von 6.000
neuen Wohnungen in Cisjordanien geplant – für 30.000 Menschen. Die Intifada,
verstanden als Wunsch und Recht der Palästinenser, der Unterdrückung und
militärischen Besetzung durch Israel ein Ende zu setzen, ist jedoch nicht tot.
Es hat die erste gegeben und dann die zweite. Vielleicht wird eine dritte
folgen.“
Die Waffen schweigen,
aber niemand spricht von Frieden…
„Schauen wir uns die
israelische Politik an: Zeigt sie, dass es Fortschritte in Richtung Frieden
gibt? Absolut nicht. Das Gegenteil trifft zu. Es gibt allerdings auch eine Frage,
die mich immer begleitet: Bis zu welchem Punkt ist es erlaubt, die unterdrückte
Seite zu kritisieren, wie ich es tue? Einige sagen mir, dass das eine
kolonialistische Attitüde ist. Ich antworte darauf, dass – wenn ich es tue –
dies Teil meiner Positionierung als linker Frau ist und weil ich unter den
Palästinensern lebe. In dieser 2.Intifada haben die Palästinenser die Waffen
nicht in der traditionellen Form der Guerilla benutzt. Sie haben auf
terroristische Anschläge innerhalb Israels zurückgegriffen. Eine Taktik, die
die wahre Situation der israelischen Herrschaft über die palästinensische
Bevölkerung vollkommen überschattet hat. Es ist allerdings nicht der Einsatz
von Waffen, der die Existenz oder – im gegenteiligen Fall – das Fehlen von
Widerstand signalisiert.“
Aber welcher Widerstand
ist unter dieser Besatzung möglich?
„Es gibt bereits einen
palästinensischen Volkswiderstand und der ist permanent. Es ist die Fähigkeit
und das Insistieren vonseiten der Palästinenser darauf, unter dem von der Besatzungsarmee
aufgezwungenen Restriktionen so normal wie möglich zu leben. Die Verletzung der
Ausgangssperre, die Eltern, die ihre Kinder trotz allem weiter zur Schule
schicken, die Arbeiter, die alles tun, um die Arbeitsplätze zu erreichen. Das
Problem ist, dass die Palästinenser im Moment keinen Leader (Anführer)
haben, der in der Lage ist, diese große Anpassungsfähigkeit in Widerstand zu
verwandeln.“
„Morgen wird es
schlimmer“ – Warum dieser
pessimistische Titel?
„Einerseits erscheint er mir
– bezogen auf die Entwicklung der Ereignisse – passend. Andererseits ist er
eine Aufforderung an die Adresse der Leser, alles dafür zu tun, damit sich
meine Prognose als falsch erweist. Israel ist dabei, neue Formen der Herrschaft
über die Palästinenser zu schaffen, während man von der Möglichkeit spricht,
dass der Friedensprozess neu gestartet wird. Die Medien, die an der Schaffung
dieses Eindruckes mitarbeiten, haben eine große Verantwortung für die
Verschlechterung der Situation, weil sie dann, wenn sie eine Realität
schildern, die das genaue Gegenteil dessen ist, was sich in den Gebieten
abspielt, dazu beitragen, dass sich nichts zum Besseren verändert. Die
Kolonisierung Cisjordaniens und die Form von Apartheid, die Israel derzeit
schafft – das ist die Realität.“
„Ha’aretz“ hält den Rückzugsplan aus Gaza für eine positive
Sache, weil er der Siedlerbewegung einen harten Schlag versetze…
„Wir reden von 7.000 Juden,
die die Kontrolle über 20% des Territoriums des Gaza-Streifens ausüben, während
1,2 Millionen Menschen eine Reihe von Restriktionen aufgezwungen wurden, die
ihr Leben unmöglich machen. Wenn wir über die sogenannte ‚Entsetzung’
diskutieren, ist das so als ob wir darüber diskutieren würden, diese
schreckliche Ungerechtigkeit zu verbessern. Jetzt wird dasselbe Phänomen einer
Minderheit von Israelis, die eine Mehrheit von Palästinensern zu schrecklichen
Lebensbedingungen zwingt, in Cisjordanien weitergehen und sich ausweiten. Ich
glaube, dass Sharon deutlich zu verstehen gegeben hat, dass der Rückzug aus
Gaza ein Vorwand ist, um die Besetzung und die Kolonisierung Cisjordaniens
fortzusetzen. In Cisjordanien werden voneinander getrennte palästinensische
Enklaven und reiche, mit Israel über ein optimales Straßennetz verbundene,
jüdische Siedlungen geschaffen. Die Realität, die derzeit geschaffen wird, ist
eine Realität der Apartheid. Ich schreibe das und tue das sicherlich nicht,
weil ich möchte, dass die Siedler in Gaza bleiben.“
Wie wird eine israelische
Journalistin beurteilt, die diese Dinge sagt?
„Ein Teil von ihnen
betrachtet mich als ‚Verräterin’. Andere lesen mich mit Interesse und fühlen
sich mit den Ansichten, die ich äußere, solidarisch. Diese Letzteren nehmen
mich als eine Art Botschafterin des anderen Israels wahr.“
Sie haben die Möglichkeit,
die Mauer von beiden Seiten zu sehen. Wie sieht das von der einen und von der
anderen Seite aus?
„Von der palästinensischen
Seite aus gesehen, stellt die Mauer eine Reihe persönlicher und kollektiver
Desaster dar: Leute, die ihr Land und ihre Wohnung verlieren, von ihren Lieben
getrennt sind – eine weitere Barriere, die Einschränkungen auferlegt, die zum
Umzug zwingen. Aus dem israelischen Blickwinkel heraus ist sie das Zeugnis
eines Panikzustandes, eines Zustandes kollektiver Hysterie. Die israelischen
Behörden haben ein Gefühl der Angst ausgenutzt, das unter den Bürgern
verbreitet ist. Eine Reihe individueller Ängste habe sich für Israel als eine
strategische Bedrohung erwiesen. Das ist aber eine Lüge, weil die
Selbstmordattentäter für den jüdischen Staat (einen mit Atomwaffen
ausgestatteten Staat) in keiner Weise eine strategische Bedrohung darstellen.
Die Mauer hat dazu beigetragen, die Kamikazes zu stoppen. Sie wurde allerdings
so errichtet, dass sie integraler Bestandteil einer Kolonisierungspolitik ist
und aus diesem Grund muss sie beseitigt werden.“
Es wird sehr viel von
Apartheid gesprochen, um die israelische Politik zu definieren. Sind Sie damit
einverstanden?
„Das, was wir erleben, ist
eine Gemengelage von militärischer Besetzung und einem Kolonisierungs- und
Apartheidprozess im ganzen Land, während es für die Juden eine Demokratie gibt,
die ein Oxymoron <=
eine Zusammenstellung zweier, sich widersprechender Begriffe in einem
Additionswort oder als rhetorische Figur> zu sein scheint. Aber das ist die Realität. Eine gefährliche
Gemengelage, weil die Welt sich für das, was <hier>
passiert, nicht zu interessieren scheint – anders als es beim Apartheidregime <in Südafrika> der Fall war, das sich der immer stärkeren
Opposition der internationalen Gemeinschaft gegenüber sah. Gleichzeitig muss
Israel – im Unterschied zu Südafrika – als eine historische Konsequenz der
Judenverfolgung in Europa und des Holocaust gesehen werden. Während Südafrika
als rassistischer Staat seit seiner Gründung keinerlei Legitimation besaß, kann
man von dem Konzept Israels als Staat, der den jüdischen Staatsbürgern die
vollen Rechte garantiert, sie der Minderheit (20%) palästinensischer
Staatsbürger <im
1948er Gebiet> aber vorenthält, nicht
dasselbe sagen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Israel autorisiert
ist, ein Staat zu bleiben, der einen Teil seiner Bürger diskriminiert.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
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