Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
In einem Artikel vom 26.8.2006 zieht der bekannte
israelische Schriftsteller, Journalist und Anti-Kriegs-Aktivist Uri Avnery
(Gush Shalom) eine
vorläufige Bilanz des (bisher) letzten Libanon-Krieges und bricht dabei einmal
mehr in erfrischender Weise mit – auch in der hiesigen „linken“ und „linksradikalen“ Szene – weit
verbreiteten Vorurteilen und Tabus. Wir entnahmen den Text seiner deutschsprachigen
Website http://www.uri-avnery.de/
Amerikas Rottweiler
Wir wollen hier noch in 100, in 500
Jahren leben. Unsere grundlegendsten nationalen Interessen fordern deshalb,
dass wir unsere Hände den arabischen Nationen entgegenstrecken, die uns
akzeptieren, damit wir gemeinsam mit ihnen die Region wieder aufbauen. Das war
vor 59 Jahren die Wahrheit und dies gilt auch für die nächsten 59 Jahre.
Uri
Avnery
IN SEINER
letzten Rede, die so viele Menschen verärgerte, äußerte der syrische Präsident Bashar al-Assad einen Satz, der
Aufmerksamkeit verdient: „ Jede neue arabische Generation wird Israel mehr
hassen als die vorhergehende.“
Von allem, was bis jetzt über den 2. Libanonkrieg gesagt wurde, ist dies
vielleicht der wichtigste Satz.
Das Hauptergebnis dieses Krieges ist Hass. Die Bilder von Tod und Zerstörung im
Libanon kamen in jedes arabische Haus, vielleicht in jedes muslimische Haus,
von Indonesien bis Marokko, vom Jemen bis zu den muslimischen Gettos in London
und Berlin. Nicht nur eine Stunde lang, nicht nur einen Tag lang, sondern
während 33 auf einander folgenden Tagen , Tag für Tag und Stunde um Stunde. Die
verstümmelten Leichen der Babys, die weinenden Frauen über den Ruinen ihrer
Häuser, die israelischen Mädchen, die „Grüße“ auf Granaten schrieben, die dann
auf libanesische Dörfer abgeschossen werden sollten. Ehud
Olmerts Geplapper über „die moralischste Armee der
Welt“, während auf den Bildschirmen Leichenberge gezeigt wurden.
Die Israelis ignorierten diese Szenen, die tatsächlich kaum auf unsern Bildschirmen
gezeigt wurden. Wir konnten sie natürlich bei Al-Jazeera
und auf einigen westlichen Kanälen sehen. Aber die Israelis waren viel zu sehr
mit den Zerstörungen beschäftigt, die in unsern nördlichen Städten angerichtet
worden waren. Gefühle des Mitleids und Empathie für Nicht-Juden sind hier seit
langem abgestumpft.
Aber es ist ein schrecklicher Fehler, die Ergebnisse dieses Krieges zu
ignorieren. Es ist bei weitem wichtiger als die Stationierung von ein paar
Tausend europäischer Soldaten an unserer Grenze mit dem freundlichen
Einverständnis der Hisbollah. Dies mag noch Generationen von Israelis
beunruhigen, auch wenn die Namen von Olmert und Halutz längst vergessen wurden und sogar Nasrallah sich
nicht mehr an den Namen von Amir Peretz wird erinnern
können.
UM DIE Bedeutung von Assads Worten zu verstehen, müssen sie in einem
historischen Kontext gesehen werden.
Das ganze zionistische Unternehmen ist mit einer Organtransplantation in einen
menschlichen Körper verglichen worden. Das natürliche Immunsystem revoltiert
gegen ein fremdes Implantat, der Körper mobilisiert alle seine Kräfte, um es
wieder los zu werden. Die Ärzte benützen eine hohe Dosis Medizin, um diesen
Widerstand des Körpers zu überwinden. Das kann eine ganze Zeit lang dauern,
manchmal bis zum Tod des Körpers selbst, einschließlich des transplantierten
Organs.
(Natürlich sollte dieser Vergleich - wie jeder andere auch – vorsichtig
verwendet werden. Aber ein Vergleich kann helfen, Dinge besser zu verstehen,
aber eben auch nicht mehr als das).
Die zionistische Bewegung hat einen fremden Körper in dieses Land gepflanzt,
das damals ein Teil der arabisch-muslimischen Welt war. Die Einwohner des
Landes und der ganzen arabischen Region lehnten die zionistische Entität ab.
Inzwischen hat die jüdische Ansiedlung hier Wurzeln geschlagen und ist zu einer
echten neuen Nation geworden, die in diesem Lande verwurzelt ist. Seine
Verteidigungskraft gegen die Zurückweisung ist gewachsen. Dieser Kampf dauert
nun schon 125 Jahre und wird von Generation zu Generation immer gewalttätiger.
Der letzte Krieg war nur eine weitere solche Episode.
WAS IST bei dieser Auseinandersetzung unser historisches Ziel?
Ein Dummkopf wird sagen: eine höhere Dosis Medikamente verabreichen, die von
Amerika und den Juden in aller Welt geliefert werden. Der größte Dummkopf wird
hinzufügen: Es gibt keine Lösung. Diese Situation wird auf immer so bleiben.
Dagegen kann nichts gemacht werden, außer dass wir uns in einem Krieg um den
anderen verteidigen. Und der nächste Krieg klopft schon an unsere Tür.
Der Weise wird sagen: unser Ziel ist es, dass der Körper das eingepflanzte
Organ als seines akzeptiert, damit sein Immunsystem uns nicht weiter wie einen
Feind behandelt, der um jeden Preis abgestoßen werden muss. Und wenn dies das
Ziel ist, müssen unsere Bemühungen in erster Linie in diese Richtung gehen. Das
heißt: jede unserer Aktionen muss gründlich an diesem einfachen Kriterium
überprüft werden: Dient es unserm Ziele, oder behindert es dieses?
Nach diesem Kriterium war der zweite Libanonkrieg eine Katastrophe.
VOR 59 JAHREN - zwei Monate vor unserm Unabhängigkeitskrieg – veröffentlichte
ich eine Broschüre mit dem Titel „Krieg oder Frieden in der semitischen
Region“. Die Einleitungsworte lauteten:
„Als unsere zionistischen Väter entschieden hatten, in Palästina einen
„sicheren Hafen“ für das jüdische Volk zu schaffen, hatten sie die Wahl
zwischen zwei Möglichkeiten:
Sie konnten in Kleinasien wie europäische Eroberer erscheinen, um einen
Brückenkopf der „Weißen“ zu bilden und sich den Eingeborenen wie Herrenmenschen
zu verhalten - eben wie die spanischen Konquistadoren oder die angelsächsischen
Kolonisten in Nordamerika.
So hatten sich die Kreuzfahrer in Palästina verhalten.
Die andere Möglichkeit wäre die: sich als asiatisches Volk zu betrachten, das
wieder zurückkommt, ein Volk, das sich als Erbe des politischen und kulturellen
Erbes der semitischen Rasse sieht und das bereit ist, sich den Völkern der
semitischen Region im Kampf gegen die europäische Ausbeutung anzuschließen.“
Wie nur zu gut bekannt ist, wählte der Staat Israel, der ein paar Monate später
gegründet wurde, den ersten Weg. Er reichte der französischen Kolonialmacht die
Hand und versuchte Großbritannien zu helfen, an den Suezkanal zurückzukehren,
und seit 1967 ist es der kleine Bruder der Vereinigten Staaten geworden.
Es wäre nicht unvermeidbar gewesen. Im Laufe der Jahre gab es immer wieder
Anzeichen dafür, dass das Immunsystem der arabisch-muslimischen Welt damit
begann, dass Transplantat (Israel) aufzunehmen - wie ein menschlicher Körper
das Organ eines nahen Verwandten annimmt – und uns zu akzeptieren. Solch ein
Anzeichen war der Besuch von Anwar Sadat in
Jerusalem. Auch der Friedensvertrag, der mit König Hussein, einem Nachkommen
des Propheten Mohammed, geschlossen wurde. Und vor allem die historische
Entscheidung Yassir Arafats, des Führers des
palästinensischen Volkes, mit Israel Frieden zu machen.
Aber nach jedem großen Schritt vorwärts kam ein israelischer Schritt zurück. Es
ist so, als ob das Transplantat die Akzeptanz des Körpers ablehne. Als ob es
sich daran gewöhnt habe, zurückgewiesen zu werden und nun alles dafür tut, den
Körper dahin zu bringen, es noch heftiger zurückzuweisen.
Auf diesem Hintergrund sollte man die von Assad jr. nach dem letzten Krieg
geäußerten Worte abwägen – er ist selber ein Teil der neuen arabischen
Generation.
ALLE VON unserer Regierung anvisierten Kriegsziele haben sich zwar eines nach
dem anderen in Luft aufgelöst – nun wurden neue Gründe aufgetischt: „Der Kampf
der Kulturen“, die große Kampagne der westlichen Welt und ihre hochnäsigen
Werte gegen die barbarische Finsternis der islamischen Welt.
Das erinnert einen natürlich an die Worte Theodor Herzls, des Gründers des
modernen Zionismus’, die er vor 110 Jahren im Gründungsdokument der
zionistischen Bewegung („Der Judenstaat“) schrieb: „ Für Europa würden wir dort
ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der
Kultur gegen die Barbarei besorgen.“ Ohne es zu wissen, wiederholte Olmert diese Idee als Rechtfertigung für diesen Krieg, um
Präsident Bush zu gefallen.
Von Zeit zu Zeit erfindet in den USA jemand einen leeren, aber leicht
verständlichen Slogan, der dann für einige Zeit den öffentlichen Diskurs
beherrscht. Je dümmer der Slogan ist, umso größer sind seine Chancen, dass er
für die Welt der Akademiker und der Medien ein Leitstern wird, bis ein anderer
Slogan erscheint und den vorherigen ersetzt. Das letzte Beispiel ist der Slogan
vom „Kampf der Kulturen“, der 1993 von Samuel Huntington geprägt wurde (in „Das
Ende der Geschichte“).
Was für ein „Kampf“ besteht zwischen dem muslimischen Indonesien und dem
christlichen Chile? Welch ewiger Kampf besteht zwischen Polen und Marokko? Was
verbindet Malaysia mit dem Kosovo, zwei muslimischen Staaten? Oder zwei
christliche Staaten wie Schweden und Äthiopien?
In welcher Weise sind die Ideen des Westens erhabener als die des Ostens? Die
Juden, die den Flammen der Ketzerverbrennung der christlichen Inquisition in
Spanien entronnen sind, wurden mit offenen Armen vom muslimisch-ottomanischen
Empire aufgenommen. Der in einem der kultiviertesten
europäischen Völker demokratisch als Führer gewählte Adolf Hitler beging den
Holocaust – ohne dass der Papst protestierend seine Stimme erhob.
In welcher Weise sind die geistigen Werte der Vereinigten Staaten, der
Großmacht des Westens, denen von Indien und China, den aufstrebenden Mächten
des Ostens, überlegen?
Huntington war gezwungen, selbst zuzugeben: „Der Westen gewann die Welt nicht
durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder der Religion, vielmehr
durch seine Überlegenheit, organisierte Gewalt anzuwenden. Die Euro-Amerikaner
vergessen oft diese Tatsache – der Rest der Welt nicht.“ Auch im Westen
erlangten die Frauen erst im 20. Jahrhundert das Wahlrecht, und die Sklaverei
wurde erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Und in der
führenden Nation des Westens erhebt der Fundamentalismus jetzt sein Haupt.
Um Gottes willen, welches Interesse haben wir, bei diesem eingebildeten „Kampf“
freiwillig eine politische und militärische Vorhut des Westens zu sein?
DIE WAHRHEIT ist natürlich, dass diese ganze Geschichte vom „ Kampf der
Kulturen“ nichts anderes als ein ideologischer Deckmantel für etwas ist, das
keinerlei Zusammenhang mit Ideen und Werten hat: nämlich der Entscheidung der
USA, die Bodenschätze der Welt, insbesondere die des Öls, zu beherrschen.
Der zweite Libanonkrieg wird von vielen als Stellvertreterkrieg angesehen. Das
soll heißen, dass die Hisbollah der Dobermann des Iran und wir der Rottweiler
der USA sind. Die Hisbollah erhält ihr Geld, die Raketen und die Unterstützung
von Seiten der islamischen Republik; wir erhalten das Geld, die Streubomben und
die Unterstützung von den USA.
Das ist sicher übertrieben. Die Hisbollah ist eine echte libanesische Bewegung,
die tief in der schiitischen Gemeinschaft verwurzelt ist. Die israelische
Regierung hat ihre eigenen Interessen (die besetzten Gebiete), die nicht von
Amerika abhängen. Aber zweifellos stecken in den Argumenten auch einige Wahrheiten,
dass dies auch ein Stellvertreterkrieg war.
Die USA kämpfen gegen den Iran, weil der Iran eine Schlüsselrolle in der Region
innehat, in der die bedeutendsten Erdölreserven der Welt lagern. Nicht nur,
dass der Iran selbst auf einem großen Öllager sitzt – seine revolutionäre
islamische Ideologie bedroht auch die amerikanische Kontrolle der umliegenden
Ölländer. Die geringer werdenden Erdölressourcen werden für die moderne
Wirtschaft immer wichtiger. Derjenige, der das Öl kontrolliert, kontrolliert
auch die Welt.
Die USA würden den Iran auch dann angreifen, wenn es von Pygmäen bewohnt wäre,
die der Religion des Dalai Lama anhängen würden. Es gibt eine schockierende
Ähnlichkeit zwischen George W. Bush und Mahmoud Ahmadinegad: der eine führt persönliche Gespräche mit Jesus
– der andere hat einen direkten Draht zu Allah. Aber der eigentliche Name des
Spiels lautet Vorherrschaft.
Was für ein Interesse haben wir denn, in diesen Kampf mit hineingezogen zu
werden? Welches Interesse haben wir als Anhänger des größten Feindes der
muslimischen Welt im Allgemeinen und mit Recht in der arabischen Welt im
Besonderen angesehen zu werden?
Wir wollen hier noch in 100, in 500 Jahren leben. Unsere grundlegendsten
nationalen Interessen fordern deshalb, dass wir unsere Hände den arabischen
Nationen entgegenstrecken, die uns akzeptieren, damit wir gemeinsam mit ihnen
die Region wieder aufbauen. Das war vor 59 Jahren die Wahrheit und dies gilt
auch für die nächsten 59 Jahre.
Kleine Politiker wie Olmert, Peretz
und Halutz sind unfähig, in diesen Kategorien zu
denken. Sie können kaum bis an ihre Nasenspitze sehen. Aber wo sind die
Intellektuellen, die weitsichtiger sein sollten?
Bashar al-Assad mag kein
großer Denker sein. Aber seine Bemerkung sollte uns gewiss sehr nachdenklich
machen.
(Aus dem Englischen
übersetzt von: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz;
vom Verfasser autorisiert)
Vorbemerkung: Antifa-AG der Uni Hannover +
Gewerkschaftsforum Hannover