Antifa-AG
der Uni Hannover:
Eine der nicht zu unterschätzenden
Schwächen des in Venezuela stattfindenden Reformprozesses (von Revolution oder
Sozialismus zu sprechen wäre – bei aller positiven Entwicklung – genau wie in
Bolivien übertrieben) ist die dünne Personaldecke, d.h. insbesondere das
übergroße Gewicht der Person Hugo Chavez. Da steht
die neue Linksregierung in Bolivien besser da. Sie verfügt neben Evo Morales in dem Vizepräsidenten Álvaro
Garcia Linera über eine weitere wichtige
Führungsfigur. Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 3.Mai 2006 sah den
43jährigen Mathematiker und Soziologen Garcia gar als die „Schlüsselfigur in
der Regierung“ und als „der denkende Kopf hinter Morales als der
Intellektuelle der Sozialbewegungen in Bolivien, aus denen die
Regierungspartei, die ‚Bewegung zum Sozialismus’ (MAS) hervorgegangen ist.“
Diese starken sozialen Bewegungen der letzten Jahre für die Verstaatlichung der
Bodenschätze und die Umverteilung ihrer Erträge zugunsten der Armen (d.h. ganz
überwiegend der indigenen Bevölkerungsmehrheit), die im März 2005 zum Sturz des
damaligen Präsidenten Carlos Mesa führte, sowie die Existenz des MAS und eines
starken linken Gewerkschaftsbundes (COB) mit großer Kampferfahrung,
sind ein zweiter großer Vorteil der bolivianischen Linken. Diesen Bewegungen
(und ihrem Rückfluss seit dem Wahlsieg) ist ein Teil von Garcias Überlegungen
in dem folgenden Exklusivinterview für die linke italienische Tageszeitung „il
manifesto“ vom 8.3.2006
gewidmet.
Álvaro
Marcelo Garcia Linera, der
sich darin auch als teilweiser Negri-Anhänger outet, saß von 1992 – 1997 als „Chefideologe“ der
indigenen Guerillabewegung Tupac Katari
im Knast. Seit 1997 arbeitet er als Dozent, der auch Vorträge an ausländischen
Universitäten hielt und sich – wie die „Süddeutsche Zeitung“ feststellt
– „in Bolivien einen guten Ruf durch seine politisch-sozialen Analysen“
erwarb. „Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und
publizierte mehrere Bücher.“
Interview:
Das neue Bolivien von Evo … und von Álvaro
„Il manifesto“-Interview mit dem bolivianischen
Vizepräsidenten, dem Soziologen Álvaro Garcia Linera, der nach 1 ½ Monaten der ersten Volks- und Indio-Regieurng Bilanz zieht.
PABLO STEFANONI – LA PAZ
Die erste Volks- und
Indio-Regierung in der Geschichte Boliviens, die von Präsident Evo Morales und dem Vizepräsidenten Álvaro
Garcia Linera geführt wird, trat am 22.Januar 2006,
begleitet von den Hoffnungen der großen Mehrheit der Bevölkerung, unter der der
Grad der Zufriedenheit bei 80% liegt, und den Befürchtungen der im allgemeinen
weißen Minderheit, die bislang immer alle Hebel (auch) der politischen macht in
der Hand hielt, in La Paz ihr Amt an.
Wie sieht die Bilanz
dieser ersten Wochen aus, Dr. Garcia Linera?
„In den ersten 1 ½ Wochen
der Regierung wurde eine Gesamtheit symbolischer Aktionen vollzogen, die
unseren Horizont kennzeichnen. Die Ernennung der Minister offenbart bereits an
sich, dass eine Generation neuer Akteure in den Staat<sdienst> eingetreten ist. Zum ersten Mal ist man zur Auswahl der
Regierungsmannschaft nicht in den Botschaften, den Großunternehmen und den (für
die bolivianische Sozialstruktur typischen) Familienclans auf Fischfang
gegangen. Eine weitere symbolische Aktion ist die Arbeitsethik: Präsident Evo Morales hat sein Gehalt um die Hälfte reduziert und
arbeitet dreimal soviel wie normal. Er trifft um 5 Uhr morgens im Quemado-Palast ein und geht oft erst nach
Mitternacht nach hause. Er ist und will in vollem Umfang ein öffentlicher
Diener sein und alle seine physischen und intellektuellen Fähigkeiten der
Gemeinschaft und dem Staat zur Verfügung stellen.“
Morales’ Vorschlag einer
Verfassungsgebenden Versammlung mit unbegrenzten Befugnissen ist in der
jüngeren Geschichte Lateinamerikas eine neue Erfahrung. Welche Radikalität kann
die Veränderung haben?
„Es geht darum eine
historische Tatsache Wirklichkeit werden zu lassen: Die Indigenen wurden in der
formalen und materiellen Verfassung der öffentlichen Gewalten niemals
berücksichtigt. Es ist die Anerkennung ihres historischen Rechtes sich als
Mehrheit und in erster Person am Aufbau einer neuen Staatsstruktur zu
beteiligen. Dies bedeutet nicht, dass man alles über den Haufen werfen muss.
Die Verfassungsgebende Versammlung wird darüber entscheiden, was zu verändern
und was beizubehalten ist. Es wird allerdings der Wille der Völker Boliviens
sein und keine Aufoktruierung von außen. Es geht
darum, das Bestehende einer historischen Beurteilung zu unterziehen und nicht
darum, Tabula rasa zu machen und mit allem wieder bei Null anzufangen.“
Wie sehr leidet die
Regierung unter der Tatsache, dass sie nicht über erfahrene
politisch-administrative Kader verfügt?
„Das ist ein interessanter
Punkt. Mir kommen da Lenins Reflektionen über die Machtübernahme und die
Notwendigkeit in den Sinn, Kader des alten Regimes zu rekrutieren. Erstens das
Fehlen von Verwaltungskadern, weil der MAS (die Bewegung zum Sozialismus) keine
wirkliche Partei ist und keine Regierungserfahrung hat. Man muss einen Teil der alten Struktur behalten, um
sich Kenntnisse über die Handhabung des Staates anzueignen und das ist eine
Komplikation. Der positive Aspekt ist allerdings, dass es bei den politischen
Kadern keine administrative und bürokratische Trägheit gibt. Und der Wille zur
Veränderung tritt mit einer sehr viel größeren Klarheit und Wucht zu Tage als
in einer Partei, die bereits über Regierungserfahrung
verfügt. Es gibt ein Herangehen an die Realität mit geringerer Treue gegenüber
der Tradition und dem Alten. Es gibt einen Mix aus zeitweiliger Beibehaltung
des Alten und einer Neigung zum Neuen und zur Veränderung, die positiv ist,
aber auch problematisch.“
Und es besteht die Gefahr
einer übermäßigen Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten…
„Das Problem ist nicht, dass
sich zuviel Macht in der Exekutive konzentriert, sondern dass dies nicht von
einer ausreichenden Dynamik der sozialen Bewegungen begleitet wird. In diesen 1
½ Monaten konnten wir eine phantastische Freude in den sozialen Sektoren
beobachten und eine Art nachlassenden Elan bei ihnen. Das macht die Dinge
schwieriger. Die Konzentration der Entscheidungen in der Exekutive (allerdings
mit einem konstanten sozialen Impuls) ist ein Mechanismus zur schnellen
Transformation des Staates.“
Sie haben als
Intellektueller eine gewisse Sympathie für die Theorien der Autonomie gezeigt
und Antonio Negris Positionen zum Teil übernommen.
Diese Regierung scheint allerdings (auch in der Rolle des Leaders) näher
an der populistischen und nationalistischen Matrix der 50er Jahre zu liegen.
Wie sehen Sie das?
„Das Problem der Autonomie
kann als ein theoretischer Gesichtspunkt betrachtet werden. Was die praktische
Politik anbelangt, habe ich jedoch meine Überlegungen über die Autonomie des
Staates gegenüber der Gesellschaft immer aus der Perspektive heraus angestellt
wie sich die Gesellschaft organisiert hat, um dem Staat auf die Pelle zu
rücken. Was sich heute bestätigt ist, dass genau diese Gesellschaft den Staat
durchdrungen, durchlöchert, zersetzt und besetzt hat. Das ist die große
aktuelle Debatte, die über Negris Überlegungen
hinausgeht. Was bedeutet die Besetzung des Staates durch die sozialen
Bewegungen? Und weiter: Ist die Besetzung bzw. Transformation des Staates durch
die sozialen Bewegungen möglich? Darüber gibt es noch keine ausreichende
Reflektion. Welcher Art von Staat schaffen diese sozialen Bewegungen Raum? Wo
sind ihre Grenzen?“
Ist es ein Problem
gleichzeitig Vizepräsident der Republik und ein „kritischer“ Soziologe
zu sein?
„Nein, im Gegenteil. Das ist
eine hervorragende Gelegenheit, weil es erlaubt die Geschehnisse und Deine <eigenen> Handlungen mit sibirischer Kälte zu analysieren. Und
als Vizepräsident kannst Du etwas sehen, das Du aus Deinem Büro als Soziologe
niemals hättest sehen können.“
Vorbemerkung, Übersetzung und
Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG
der Uni Hannover