Antifa-AG der Uni Hannover:


Seit der gezielten Ermordung von Scheich Yassin durch die israelischen Besatzungstruppen ist, wenn von den Palästinensern geredet wird, nur noch die Hamas Thema. Das ist auch deshalb ein Fehler, weil die größte und älteste Mitgliedsorganisation der PLO, Yasser Arafats’ Al Fatah, die zugleich auch den Kern der Palästinensischen Autonomiebehörde bildet, derzeit die tiefste Krise ihrer Geschichte durchmacht. Es ist eine existenzielle Krise, die mit massiver Korruption, einem autokratischen Regierungsstil und Flügelkämpfen zwischen „Modernisierern“ und „Traditionalisten“ zu tun hat. Letztere streiten vor allem über die Frage, wie weit man sich den Forderungen der USA, Israels und der EU unterwerfen soll. Eine Krise, die viele Beobachter für unlösbar halten und die zur Spaltung der Fatah führen werde. Dafür spricht die Tatsache, dass die internen Kämpfe mittlerweile mit Mafia-ähnlichen Methoden (Mordanschlägen, Bildung von Privatarmeen etc.) ausgetragen werden, wie es das unabhängige Online-Wochenmagazin „Palestine Report“ jüngst ausdrückte. Da diese Situation in den deutschsprachigen Medien nur sehr verkürzt und zersplittert vorkommt, hier die Übersetzung zweier Artikel des Nah Ost-Korrespondenten der unabhängigen linken italienischen Tageszeitung „il manifesto“. Michele Giorgio ist einer der kompetentesten und langjährigsten linken Journalisten, die die Entwicklung in Palästina aus der Nähe beobachten. Der erste Artikel erschien in „il manifesto“ vom 28.2.2004.



Die Tagung des Al Fatah-Revolutionsrates endet in einer Schlägerei


Gegenseitige Beleidigungen zwischen Yasser Arafat und einem der Oppositionellen, Nasser Yusef. Die palästinensische Bewegung am Rande des Zerfalls.


Michele Giorgio – Jerusalem


Der Zerfall von Al Fatah, der wichtigsten politischen Bewegung der Palästinenser, die jahrzehntelang Nationalismus und Laizismus miteinander verbunden und dabei große Teile der palästinensischen Gesellschaft repräsentiert hat, geht weiter. Donnerstagabend hat die Krise der Organisation während der Tagung des Revolutionsrates (RC) der Fatah, die einberufen worden war, um einen Ausweg aus dem für alle offensichtlichen Niedergang zu finden, ihren tiefsten Punkt erreicht. Die seit Monaten von Aktivisten und Funktionären geforderte interne Debatte endete fast in einer Schlägerei zwischen dem palästinensischen Präsidenten und Al Fatah-Gründer Yasser Arafat und einem seiner Widersacher, dem General Nasser Yusef. Die beiden tauschten schwerste Beleidigungen aus bevor sie den Saal verließen, in dem sich der RC versammelt hatte. Das Geschehene bestätigt die Ansicht einiger palästinensischer Beobachter, die eine Spaltung von Al Fatah, die der definitiven Kontrolle der islamischen Bewegung Hamas über die palästinensische Gesellschaft den Weg ebnen könnte, für immer wahrscheinlicher halten. Ebenso beunruhigend ist das gestrige Schweigen der Tageszeitungen der Besetzten Gebiete und des Radiosenders „Stimme Palästinas“ über die Auseinandersetzung im RC. Der Revolutionsrat hatte sich seit drei Jahren, seit dem Beginn der <zweiten> Intifada nicht mehr getroffen.


Auf der Tagesordnung der Sitzungen, die Mittwochabend begannen, stand natürlich die Krise der Bewegung, die dafür bezahlt, dass sie das „Rückgrat“ der Palästinensischen Autorität <d.h. der Autonomiebehörde> ist, die von Israel hart attackiert wurde, aber auch aus der Bevölkerung der Unfähigkeit und der Korruption beschuldigt wird. Es gab in den letzten Monaten nicht wenige Parteiaustritte aus Protest gegen die alte Garde, die des Immobilismus beschuldigt wird. Arafat hat am Mittwoch eine Abstimmung über eine neue Führung und Anstrengungen versprochen, um den toten Punkt in den Beziehungen zu Israel zu überwinden. Auf eine andere anliegende Frage, d.h. die Auflösung der bewaffneten Gruppe „Brigade der Al Aqsa-Märtyrer“, die sehr populär ist, aber von zahlreichen Al Fatah-Führern als Stachel im Fleisch, wenn nicht sogar als eine außer Kontrolle geratene „kriminelle“ Organisation betrachtet wird, ist der palästinensische Präsident nicht eingegangen.


Wie Viele vorhergesehen hatten, entzündete sich die Debatte Donnerstagabend an der Frage der Sicherheitsdienste, die – Nasser Yusef zufolge – ohne eine Reform nicht effizient funktionieren können. Seine Worte riefen bei Arafat, der Yusefs Redebeitrag als eine direkte Herausforderung seiner Zuständigkeit für die Sicherheitsdienste interpretierte, Erregung hervor. Der palästinensische Führer warf ein Mikrofon nach seinem Widersacher, der mit dem Wurf eines Kugelschreibers antwortete. Einige Mitglieder des RC berichteten, dass Chaos ausbrach, während Arafat und Yusef fortfuhren, schwerste Beleidigungen auszutauschen, bevor sie beide den Saal verließen. Es ist offensichtlich, dass sich Al Fatah nicht nur in der Krise befindet, sondern Arafat selbst dabei ist, den klaren politischen Verstand zu verlieren. Der palästinensische Präsident wird, während er einerseits die Absicht hat, sich gegen diejenigen zu verteidigen, die ihn mit ihrer Kritik faktisch dem Druck der Vereinigten Staaten und Israels aussetzen, die seine „Absetzung“ möchten, andererseits zu einem Hindernis für den Erneuerungsprozess, der für Al Fatah die einzige Rettung bedeutet.


Die Auseinandersetzung bis zum letzten Blutstropfen über die Geheimdienste erscheint noch irrationaler, wenn man daran denkt, dass Israel, die USA und auch einige europäische Staaten daran arbeiten, den Palästinensern gerade die Kontrolle über die Sicherheit zu entziehen. Einige (nicht nur israelische) Zeitungen berichteten gestern, dass der amerikanische Präsident George Bush die Absicht hat, die europäischen Staaten davon zu überzeugen, den vom israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon ausgearbeiteten sog. „Plan zur einseitigen Trennung“ von den Palästinensern zu unterstützen. Im Vorgriff auf den „Rückzug“ aus Gaza prüft die israelische Regierung nun eine Einbeziehung Ägyptens in die Sicherung des Gaza-Streifens. Israel – schrieb die „Jerusalem Post“ – schließt nicht aus, die Kontrolle des „Philadelphia-Korridors“ an Ägypten abzutreten. Dieser Korridor verläuft entlang der ägyptischen Grenze, allerdings innerhalb des Gaza-Streifens. Der „Jerusalem Post“ zufolge wurde diese Frage in den vergangenen Tagen in Kairo vom Chef des israelischen <Auslandsgeheimdienstes> Mossad, Meir Dagan, mit den ägyptischen Behörden diskutiert.


Bei einem Anschlag in Hebron wurden gestern Abend zwei Israelis getötet, berichtet Radio Israel. Es scheint, dass der Anschlag aus einem fahrenden Auto heraus verübt wurde. Die israelischen Militärbehörden berichteten gestern, dass sich ein palästinensischer Selbstmordattentäter in Gaza in der Nähe eines Jeeps der israelischen Armee in die Luft sprengte, ohne Opfer zu verursachen. In Jerusalem kam es hingegen anlässlich des islamischen Freitagsgebetes zu Zwischenfällen auf dem Tempelberg / der Esplanade der Moscheen. Jugendliche Palästinenser warfen von der Esplanade aus Steine auf die tiefer gelegene Klagemauer, um gegen den Bau der Barriere in Cisjordanien zu protestieren. Die Polizei stürmte die Esplanade, wo sie Tränengas und Betäubungsgranaten verschoss. Es gab keine Verletzten.



Der zweite Artikel erschien in „il manifesto“ vom 3.3.2004:


Gaza City:


Ein Journalist und Arafat-Berater ermordet


Khalil Al Zeben im Rahmen einer grausamen Begleichung interner Rechnungen innerhalb Al Fatahs umgebracht.

Alltägliche Jagd: Gestern ein unbewaffneter Palästinenser während des Eindringens in Hebron von israelischen Soldaten getötet. Er habe die Aufforderung, stehen zu bleiben, ignoriert.


Michele Giorgio – Jerusalem


Im vergangenen Jahr verzeichnete der Wohnungsbau in den israelischen Siedlungen in den Besetzten Gebieten einen Zuwachs von 35%. Eine offizielle Zahl, die diejenigen, die in Cisjordanien und im Gaza-Streifen leben und sehen, wie das Land und seine Ressourcen verschwinden, nicht wenig beunruhigen dürfte Und doch beschließen die Palästinenser in einem für ihre Zukunft kritischen Moment untereinander Krieg zu führen. Am Montag wurde Khalil Al Zeben, Journalist und Berater des Präsidenten Yasser Arafat, von Unbekannten ermordet, während er den Sitz seiner Zeitung „Al Nashra“ im Stadtteil Sabra an der Peripherie der Hauptstadt Gaza City verließ. Die Killer brachten ihn um und zerstreuten sich dann. Nur Wenige glauben, dass irgendjemand sie ernsthaft suchen wird. Sein Name fügt sich zu denen anderer hervorragender Persönlichkeiten hinzu, die alle der Fatah angehörten und in den letzten Jahren in Gaza getötet wurden: der politische Exponent Assad Saftawi, der Anwalt Mohammed Abu Shaban und der Direktor des öffentlichen Fernsehens, Hisham Mekki. Alle wurden auf dieselbe Weise getötet – im Rahmen einer Begleichung von Rechnungen innerhalb der Fatah, die in Krisenmomenten politische Unbeweglichkeit und interne Gewalt hervorbringt. In Gaza ist das Chaos dabei die Oberhand zu gewinnen und die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde ANP scheinen unfähig, ihre Aufgabe wahrzunehmen, während die Lokalfürsten durch die Bildung von Privatmilizen versuchen, ihr Gesetz durchzusetzen und dabei von der Abwesenheit Arafats zu profitieren, der seit 2 ½ Jahren in sein Hauptquartier in Ramallah verbannt ist. Gestern hat Arafat, angesichts der Verschärfung der Situation Mohammed Dahlan (den Mann, der mehr als jeder andere mit einem „Heer“ Hunderter bewaffneter Jugendlicher und der Mithilfe des von seinem Freund Rashid Abu Shabak geführten Präventiven Sicherheitsdienstes seine Autorität in Gaza bedroht) zu sich gerufen. Arafat musste sich auf eine Vereinbarung mit seinem Gegner einlassen. Vor einigen Tagen hat er ihm einen Ministerposten in der neuen Regierung versprochen, die Ministerpräsident Abu Ala in den nächsten Monaten bilden soll. Gestern hat er ihn – Indiskretionen zufolge – gebeten, das Seine dafür zu tun, damit die Situation wieder unter Kontrolle gerät.


Arafat ist schlau. Die Verbannung nach Ramallah hat seinen Handlungsspielraum inn den Krisenmomenten nur wenig beeinträchtigt. Gleichzeitig ist der palästinensische Präsident geschwächt. Gerade gestern musste er seine Einwilligung zu der Entscheidung Abu Alas geben, die Gehälter der Sicherheitsbeamten auf dem Bankweg und nicht mehr über ihre Kommandanten auszuzahlen, um sie Druck und Einschüchterungen zu entziehen. Das war eine der von der Europäischen Union gestellten Bedingungen, um weiterhin die Dutzenden von Millionen Dollar an Haushaltsmitteln bereitzustellen, die notwendig sind, um die Gehälter der 130.000 Beschäftigten einer in Auflösung begriffenen ANP zu bezahlen, die 54% der Palästinenser zufolge (laut einer JMCC-Umfrage in Ostjerusalem) schon nicht mehr existiert und die weiteren 30% zufolge gut daran täte, für immer zu verschwinden.


Das alles während die israelische Besatzung nicht nachlässt und die „Trennungsmauer“ in Cisjordanien länger wird. Gestern wurde ein unbewaffneter Palästinenser während eines Eindringens in Yatta (Hebron) von israelischen Soldaten auf der Jagd nach Aktivisten der Intifada getötet. Militärische Quellen sprachen davon, dass der Mann getötet worden sei, weil er versucht habe zu fliehen und dabei die Aufforderungen stehen zu bleiben, ignoriert habe. Sie räumten allerdings ein, dass bei ihm keinerlei Waffe gefunden wurde.


Unterdessen hat, während er auf seine, für den 21.April (nach 18 Jahren Gefängnis) vorgesehene Haftentlassung wartet, der Atomtechniker Mordechai Vanunu, der der Welt die Geheimnisse der israelischen Atomproduktion enthüllte, begonnen über die Details seiner Entführung durch israelische Agenten in Rom im September 1986 zu berichten. In einem an Freunde adressierten und vom israelischen Privatfernsehen gezeigten Brief bestätigt Vanunu, dass er in London eine blonde junge Frau (Cindy) getroffen habe, die ihn überzeugte, mit ihr ein Wochenende in Rom zu verbringen. „Als wir ankamen“ – schrieb Vanunu – „wartete ein Italiener auf uns, der sich als ein Freund der Schwester meiner Freundin präsentierte. Er brachte uns im Auto in eine Wohnung außerhalb der Stadt.“ Kaum, dass er diese betreten hatte, „fielen zwei Männer über mich her, die mich mit einer Injektion betäubten“. Dann wurde er nach Israel gebracht, wo ihm der Prozess gemacht und er ins Gefängnis gesteckt wurde.



Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover