Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Sofern hierzulande und allgemein in der westeuropäischen Linken Israelis zu Wort kommen, die die zionistische Kriegs- und Besatzungspolitik ablehnen und bekämpfen, handelt es sich fast ausschließlich um jüdisch-stämmige Israelis. Das zeigt – bei aller Zustimmung zu ihrer Kritik und ihrem Kampf sowie dem Mut, den sie (täglich) zeigen – unseres Erachtens auch eine gewisse Schieflage. Wenn von der hiesigen Linken Kritik am Staate Israel überhaupt noch angenommen wird, dann von jüdischen Israelis. Arabischen Israelis, Palästinensern aus den 1967 besetzten Gebieten, Libanesen oder Syrern wird in der Regel nicht halb soviel Aufmerksamkeit geschenkt. Auch in nicht von vornherein pro-zionistischen Kreisen sind sie “die Anderen”, “die Araber” oder gar “die Moslems” (bei ach so “aufgeklärten” und “Schwarzweiß-Denken” ablehnenden Autonomen, wie z.B. der Gruppe Ohm 365 in Hannover, auch gern unisono “die religiösen Spinner” genannt), die unter dem Generalverdacht stehen, “Antisemiten” zu sein. (Obwohl die Palästinenser selbst – Ironie der Geschichte – ethnisch Semiten sind!) Ein wenig selbstkritische Reflektion darüber, inwieweit hier schleichend “eurozentristisches Denken” und soetwas wie “Metropolenchauvinismus” Einzug gehalten hat, wäre sicherlich nicht falsch.

 

Mit dem folgenden Interview mit dem arabisch-israelischen Knesset-Abgeordneten und Anti-Kriegs-Aktivisten Ahmed Tibi aus dem Online-Magazin Bitterlemons vom 14.8.2006 wollen wir dieser Schieflage ein wenig entgegen wirken.

 

Der 48 Jahre alte Ahmed Tibi ist Doktor der Physik, führendes Mitglied der Arabischen Erneuerungsbewegung (Ta’al) und seit 1999 Knesset-Abgeordneter für diese arabisch-nationalistische Partei. Zuvor war er einer der wichtigsten Berater des Al-Fatah-Vorsitzenden und Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Yasser Arafat, den er 1984 in Tunis kennenlernte und zu dem er bis zu dessen Tod im November 2004 ein sehr enges Verhältnis hatte. Tibi, der der antiimperialistischen Konferenz Axis for Peace angehört, wandte sich – ähnlich wie große Teile der Fatah-Basis – in den letzten Jahren stärker dem Islam zu, ohne deshalb ein “Fundamentalist” zu werden. Während seine Partei jedoch bei den Knesset-Wahlen im Jahr 2003 noch als Teil des von der Kommunistischen Partei Israels (Maki) geführten linken Wahlbündnisses Hadash kandidierte und gewählt wurde, trat er bei den jüngsten Parlamentswahlen Ende März 2006 für die Vereinigte Arabische Liste (Ra’am-Ta’al) an, die seine Partei mit dem, kontinuierlichen Wandlungen unterworfenen, Klein- und Kleinstparteien-Bündnis Ra’am gebildet hatte, deren Anhängerschaft hauptsächlich aus arabischen Beduinen besteht. Die neu gebildete Vereinigte Arabische Liste erhielt 94.786 Stimmen (3%) und übertraf damit die linke Hadash (86.092 Stimmen) sowie die laizistisch-linksliberale arabische Nationaldemokratische Allianz / Balad von Azmi Bishara, einem bekannten Vertreter der Sozialforumsbewegung in Israel (72.066 Stimmen) und errang 4 Abgeordnetenmandate. (Die beiden anderen jeweils 3.) Damit wurde Tibis Wahlbündnis unter den israelischen Arabern zur stärksten “Partei”.

 

Kurz vor den Knesset-Wahlen unternahmen rechte und rechtsradikale Kreise des zionistischen Lagers den nur knapp gescheiterten Versuch die Vereinigte Arabische Liste (Ra’am-Ta’al) von den Wahlen auszuschließen und quasi zu verbieten. Zum Anlaß genommen wurde dafür ein massiv verzerrender Bericht der stramm rechten Tageszeitung Yediot Ahronot von einer Wahlkampf-Pressekonferenz des Parteivorsitzenden Scheich Ibrahim Zarzur Mitte Februar 2006, auf der dieser angeblich dazu aufgerufen habe, Israel in ein islamisches Kalifat zu verwandeln. Zarzur dementierte diese Aussage heftig und erklärte, das Bestreben seiner Partei sei keineswegs einen islamischen Staat zu errichten, sondern einen Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten, die Gründung eines voll souveränen palästinensischen Staates dort und die politische und soziale Gleichstellung der arabischen Bevölkerungsminderheit im israelischen Staat zu erreichen. Der zuständige Wahlausschuss lehnte den Verbotsantrag schließlich mit äußerst knapper Mehrheit ab, nachdem selbst der israelische Generalstaatsanwalt Meni Mazuz erklärt hatte, es seien “keine ausreichenden Beweise für einen Ausschluss der Partei oder ihrer Kandidaten vorgelegt” worden.

 

Was die Position der arabischen Israelis zum jüngsten Libanon-Krieg anbelangt, ergab eine Meinungsumfrage des Tami Steinmetz Center for Peace Research vom 31.Juli und 1.August 2006 ein ganzes anderes Bild als es in den deutschen Medien vermittelt wurde. Demnach bezeichneten 68% der palästinensischen Araber Israels Krieg im Libanon als “ungerechtfertigt”. 79% behaupteten, dass Israels Luftangriffe “ungerechtfertigt” seien. 56% beurteilten die Erklärungen von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah als “glaubwürdig”, während 53% fanden, dass die Berichte der israelischen Armee (“IDF”) “nicht glaubwürdig” seien (siehe Yossi Alphers Kommentar in Bitterlemons vom 14.8.2006).

 

Dem widerspricht eine von Dahaf gut zwei Wochen später durchgeführte Umfrage, der die Tageszeitung Haaretz am 24.8.2006 einen eigenen Artikel widmete. Demzufolge hätten nur 18% der israelischen Araber angegeben, die Hisbollah während des mehr als einmonatigen Krieges “unterstützt” zu haben, während 27% von ihnen angaben, sie hätten Israel “unterstützt” und 36% meinten, sie hätten keine der beiden Seiten unterstützt. Nicht erwähnt wird in dem Artikel u.a., dass in dieser Aufstellung ein Rest von 19% bleibt, der sich zu keiner dieser Positionierungen bekennen wollte. Ebenso wenig wird erwähnt, wieviele Personen befragt wurden, wieviele überhaupt antworteten und wann und wo diese etwas dubiose Umfrage stattfand. Eine Umfrage, die auch dadurch deutlich an Wert verliert, weil hier ein klares Bekenntnis zur “Unterstützung” des israelischen Kriegsgegners während des Krieges gefordert wurde. Also ein klares Bekenntnis zum “Hochverrat”, das für die entsprechend Antwortenden durchaus unangenehme Folgen hätte haben können. Zumal sich auch der zionistische Inlandsgeheimdienst Shin Bet gern mal solcher “Umfragen” bedient. Die Fragestellungen der Tel Aviver Uni waren hingegen indirekter bzw. allgemeinerer Natur und bargen daher wesentlich geringere Gefahren für die Antwortenden.

 

Das Online-Wochenmagazin Bitterlemons (www.bitterlemons.org) ist ein bi-nationales palästinensisch-israelisch Projekt, erscheint seit November 2001 jeweils Montags und besteht immer aus 4 Beiträgen. Je zwei von palästinensischen und zwei von israelischen Autoren. Wobei die beiden Herausgeber in jeder Ausgabe je einen Beitrag selbst beisteuern. Herausgeber sind der ehemalige Arbeitsminister der Autonomiebehörde Ghassan Khatib, ein bekannter Intellektueller, ehemaliger Unterhändler und bis heute führendes Mitglied der Palästinensischen Volkspartei (PPP), d.h. der nach 1989 in eine offen sozialdemokratische und “zivilgesellschaftliche” Organisation verwandelten ehemaligen palästinensischen KP, sowie der ehemalige Mossad-Offizier und frühere Direktor des Jaffee Center for Strategic Studies an der Universität Tel Aviv, Yossi Alpher, der seinerzeit einer der wichtigsten Berater des Ministerpräsidenten Ehud Barak (Arbeitspartei / Avoda) war. Die beiden lernten sich Anfang der 90er Jahre auf einer Diskussionsveranstaltung der Harvard University (USA) kennen und erreichen mit Bitterlemons heute, nach eigenen Angaben, jede Woche etwa 100.000 Leser. Die Beiträge ihres Magazins werden von Anderen regelmäßig ins Arabische, Hebräische, Portugiesische und Französische übersetzt. Dieser Erfolg führte dazu, dass sie für Beiträge zu anderen Teilen des Mittleren Ostens parallel das Online-Magazin Bitterlemons-International schufen (www.bitterlemons-international.org).

 

Die Leser und Leserinnen des folgenden Interviews mit Ahmed Tibi haben im übrigen doppelt Grund zur Freude: Nicht nur, dass sie die Einschätzungen eines der wichtigsten Vertreter der in Israel lebenden Palästinenser zu hören bekommen, sie dürfen sich mit dieser Lektüre auch zur Elite zählen, denn Bitterlemons”-Mitherausgeber und Ex-Mossad-Offizier Yossi Alpher erklärte zur Konzeption des Online-Magazins: “Wir richten uns an Eliten und publizieren nur in Englisch. (...) Und das Grundprinzip ist Vielfältigkeit sowie zivilisierte Diskussionen über unterschiedliche Meinungen.” (“Deutsche Welle” 5.5.2006)

 

EINE ISRAELISCHE SICHTWEISE:

 

Israel war der Aggressor

 

Ein Interview mit Ahmed Tibi

 

Was brachte einen prominenten politischen Kommentator der Tageszeitung Maariv wie Ben Caspit dazu, Sie auf dem Höhepunkt des Libanon-Krieges dazu aufzufordern, Israel zu verlassen?

 

“Ich denke, dass die allgemeine Atmosphäre des israelischen Staates während des Krieges aus großer Angst, Frustration und einem Versuch bestand, den verborgensten ‚Feind‘ aufzuspüren, der am einfachsten zu fassen war. Dies geschah dadurch, dass die palästinensischen Bürger des Staates Israel und in der Hauptsache ihre Führung zur Zielscheibe gemacht wurden. Caspit tat dies, indem er diesen im McCarthy-Stil gehaltenen Artikel veröffentlichte und mich aufforderte, seine Position zu übernehmen, den Krieg und die Armee zu unterstützen oder abzuhauen, weil ich von Anfang an erklärt habe: ‚Stoppt den Krieg! Ich bin dagegen!‘

 

Wie erklären Sie die scheinbaren Sympathien der arabischen Bürger Israels für die Hisbollah in diesem Krieg, obwohl es sich um eine schiitische Bewegung handelt und ihre Raketen israelische Araber genauso töten wie Juden?

 

“Die überwältigende arabische Meinung in Israel war gegen den Krieg. Die Araber nahmen Israel als die aggressive Seite wahr und den gesamten Libanon als das Opfer seiner riesigen Militärmaschine, die die Infrastruktur zerstörte und Hunderte von Zivilisten (Frauen, Kinder und alte Leute) tötete. Da war es ganz natürlich, dass wir Mitgefühl mit den Opfern äußern und gleichzeitig erklären würden, dass wir gegen Angriffe auf Zivilisten sind – in Beirut ebenso wie in Haifa oder Gaza.”

 

Wie ist Ihre persönliche Meinung zur Hisbollah und der Art, wie dieser Krieg begann?

 

“Die Hisbollah hat von Anfang an erklärt, dass sie versuchen werde, israelische Soldaten zu entführen, um sie gegen libanesische Gefangene auszutauschen. Das war klar. Ich denke, dass die Entscheidung Samir Kuntar ((den ältesten und prominentesten libanesischen Gefangenen in Israel <und ein Kommunist>)), die ((beim letzten Gefangenenaustausch)) in letzter Minute getroffen wurde, ein Fehler war. Wenn Du ein besetztes Land verläßt, schließt Du die ganze Angelegenheit ab, auch indem Du die Gefangenen freiläßt. Denselben Fehler macht Israel in der West Bank und im Gaza-Streifen. Selbstverständlich unterscheiden wir uns von einem sozio-religiösen Standpunkt aus von der Hisbollah. Das ist allerdings gar nicht der Punkt. Wir reden darüber, ob man den Libanon-Krieg unterstützt oder nicht, ob man die Zerstörung des Libanon unterstützt oder nicht.

 

Als ((der iranische Führer Mahmud)) Ahmadinedschad vor einigen Monaten erklärte, dass Israel zerstört werden sollte, habe ich diese Stellungnahme kritisiert. Die Zwei-Staaten-Lösung ist das beste. Wir befinden uns in der Ära des Aufbaus eines Staates, nicht in der der Zerstörung eines Staates.”

 

Anfangs, z.B. als Ministerpräsident Olmert – am 17.Juli – das erste Mal vor der Knesset über den Krieg sprach, kritisierten die arabischen Knesset-Mitglieder die israelischen Kriegsanstrengungen nicht. Was hat Sie Ihre Ansichten ändern lassen?

 

“Gar nichts. Genau 15 Minuten vor Olmerts Rede habe ich einen Misstrauensantrag gegen diese Regierung eingebracht, sie angegriffen und den Krieg abgelehnt. Während einer Rede zu schweigen, sollte nicht in extremer Weise interpretiert werden.”

 

Wie schätzen Sie die Auswirkungen der israelisch-arabischen Position in diesem Krieg auf die jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel insgesamt ein?

 

“Wir sagen mit aller Entschiedenheit, dass wir gegen den Raketenbeschuss auf Haifa und Nahariya sind. Und wir haben Mitgefühl für die Familien, die Tote und Verletzte zu beklagen hatten. Ich denke, dass der Krieg selbst, der gegen das liberalste und zivilisierteste arabische Land in der Region begonnen wurde, mit der Zerstörung ((die er mit sich brachte)) und den Positionen der politischen Führung und der Presse ((Israels)) die bereits bestehende Kluft zwischen der jüdischen Mehrheit und der arabischen Minderheit vertieft hat. Der Versuch, uns Meinungen und Positionen durch einige Journalisten und Führer zu diktieren, war eine Art faschistischer Einschüchterungsversuch gegen uns, aufgrund unserer Opposition gegen den Krieg. Diese Positionen und Artikel waren der klare und deutliche faschistische Ausdruck einer überwältigenden kriegslüsternen Stimmung, die das Land ergriffen hat.

 

Aber wie üblich befanden wir uns – ein Déjà-vu-Erlebnis – im Jahre 1982 als der Konsens, der den Krieg unterstützte, Risse bekam und gebrochen wurde. Heute sind wir in derselben Position, mit einer verbreiteten Unterstützung für den Krieg, die schon dabei ist abzubröckeln. <Die “links”-sozialdemokratische Partei> Meretz ist dabei ihre Meinung zu ändern und der rechte Flügel greift die Regierung an und behauptet, es habe eine schlechte Kriegsführung gegeben. Am Anfang waren wir allein, aber jetzt sind wir es nicht. Dennoch wird uns keiner nach zwei oder drei Monaten sagen: ‚Ihr habt Recht gehabt.‘ Weil wir Araber sind und nicht Teil des Konsenses. Ich bin mir nicht sicher, ob Ben Caspit schreiben wird: ‚Ahmed, Ich entschuldige mich.‘

 

Wie schätzen Sie die Stabilität der Regierung Olmert ein, jetzt wo es einen Waffenstillstand gibt?

 

“Als Physiker kann ich sagen: ‚Schlechte Prognose‘, vom persönlichen und politischen Aspekt aus betrachtet. ((Ministerpräsident Ehud)) Olmert hat als Führer enorm an Zuspruch verloren, ((Verteidigungsminister)) Amir Peretz hat eine Menge verloren und wird sogar in seiner Arbeitspartei angegriffen und ((IDF-Generalstabschef)) Den Halutz sollte – genau wie andere Generäle des Generalstabs – froh sein, wenn er Generalstabschef bleibt. Israel hat politisch, militärisch und sozio-ökonomisch verloren. Die israelische Wirtschaft wurde verwüstet, mit mindestens 4 Milliarden $ Verlusten am Markt. Wir haben von Anfang an gesagt, dass das passieren würde.”

 

Wie schätzen Sie das Waffenstillstandsabkommen ein?

 

“Erstens, es wird ein Ende des Luftkrieges und der Raketenangriffe geben, aber es wird <weiterhin> zu Konfrontationen im Südlibanon kommen. Von einem Zustand der Ruhe sind wir weit entfernt. Israel sollte sich von den Shebaa-Höfen zurückziehen und niemandem eine Entschuldigung geben, zu sagen, dass es libanesisches Territorium kontrolliert. Es sollte nicht in den libanesischen Luftraum und die Küstengewässer eindringen. Der Libanon und die Hisbollah sollten dasselbe tun, Israels Souveränität respektieren. Einen Gefangenenaustausch wird es zweifellos geben. Das habe ich von Anfang an gesagt.”

 

Sie sind mehrmals in den Libanon gereist und kennen die dortige Führung gut. Sind sie ein Kandidat, um bei der Vermittlung eines Gefangenenaustauschs zu helfen?

 

“Ich denke nicht, dass das eine Aufgabe für jemanden wie mich ist, der aus der israelisch-arabischen Community kommt. Die Deutschen oder andere Europäer oder die Vereinten Nationen (UN) sind da die besten.”

 

Der Knesset-Abgeordnete Ahmed Tibi ist stellvertretender Sprecher der Knesset und führt die Partei “Arabische Erneuerungsbewegung” seit 1999.

 

 

<Die Einfügungen in doppelten Klammern und Garamond-Schrift stammen von der Bitterlemons”-Redaktion, d.h. höchstwahrscheinlich von Yossi Alpher.>

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung aus dem Englischen und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover