Antifa-AG
der Uni Hannover:
Vom 4. bis
7. Mai 2006 fand in Athen das 4. Europäische Sozialforum
(ESF) statt, das ein weiterer Ausdruck der (zunehmenden) Krise der europäischen
Antiglobalisierungs- bzw. „Sozialbewegung“ ist. Belege für die Krise gibt es
reichlich: So nahmen an der traditionellen Abschlussdemonstration nach
Mitteilung der Veranstalter nur noch 50.000 Leute teil. In London waren es im
Oktober 2004 offiziell noch 100.000 gewesen. Real waren es in London allerdings
nur 11.000 und damit halb soviel wie in Paris 2003 und sogar nur ein Fünftel
der Dimension von Florenz 2002. Wenn der Übertreibungsfaktor weiterhin bei 10
liegt (wovon leider auszugehen ist) dann waren in Athen also nur mehr 5.000 No
globals auf der Straße, d.h. nur noch 10% der Florentiner
Menge. Die griechische KP (KKE), die bei den letzten Europawahlen knapp 10% der
Stimmen holte, beteiligte sich gleich gar nicht an dem Event, den sie – nicht
zu Unrecht – als systemimmanent und bürgerlich integrativ kritisierte. Ein
Land, das bereit wäre, das nächste ESF auszurichten, hat sich trotz reger
Bemühungen bisher nicht gefunden. Auch die bundesdeutsche Linke dürfte nach dem
Reinfall des deutschen Sozialforums im Juli 2005 in Erfurt mit Recht die Finger
davon lassen. Im Gegensatz zu früher gesteht man sich jetzt allerdings die
Krise der Antiglobalisierungsbewegung zumindest teilweise ein. (Bis vor nicht
allzu langer Zeit wurden wir bei entsprechenden Hinweisen noch als „Miesmacher“
abgetan.) Allein 22 Veranstaltungen des Athener ESF drehten sich um die Frage
„Wie weiter?“
Und genau
damit beschäftigt sich auch der folgende Beitrag des Führungsmitgliedes der Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR), Léonce
Aguirre, in der LCR-Wochenzeitung “Rouge”
Nr. 2157 vom 5.5.2006. Die trotzkistische LCR (http://www.lcr-rouge.org/) ist Kern der offiziellen
4.Internationale und eine der tragenden Kräfte der französischen Anti- bzw.
Alternativglobalisierungsbewegung. Auch im ESF spielt sie eine zentrale Rolle.
Obwohl nur 3.000 Mitglieder stark, erzielte sie auch bei Wahlen in Frankreich
in den letzten Jahren einige Achtungserfolge. Spitzenergebnis waren die 1,2
Millionen Stimmen (4,25%) ihres Kandidaten Olivier Besancenot
bei den Präsidentschaftswahlen im April 2002. Zuletzt waren die Wahlergebnisse
allerdings stark rückläufig.
Europäisches Sozialforum:
Zu einem zweiten Aufschwung
finden
Beim
vierten Europäischen Sozialforum (ESF), das vom 4. bis 7.Mai in Athen
stattfindet, kommt es darauf an, Mobilisierungen in kontinentalem Maßstab gegen
die Politik der Europäischen Union zu initiieren und die Alternativen zum
Liberalismus zu erörtern. Aber es geht auch darum, einer Sache zu einem zweiten
Aufschwung zu verhelfen, die in Europa paradoxerweise mit der Gefahr des
Erlahmens konfrontiert ist.
Die
ersten vier ESF’s (in Florenz 2002, in Paris 2003, in
London 2004 und in Athen 2006), ermöglichten es zunächst, einen gemeinsamen
Rahmen zu schaffen, der repräsentative Gewerkschaften, einen wesentlichen Teil
der sozialen Bewegung sowie der Vereine und Verbände zusammenfasste und sie mit
politischen Strömungen verband. Hauptsächlich mit dem kommunistischen
Einflussbereich und den Strömungen der antikapitalistischen und selbstorganisierten Linken. Diese Verbindung entsteht im
Laufe der Zeit. Die ESF’s haben sich so geographisch
– insbesondere um die Länder Mittel- und Osteuropas – und sozial in Richtung jener
erweitert, die in der Prekarität leben. Auch wenn noch
viel zu tun bleibt, um ihre Präsenz bei der Vorbereitung und dem Verlauf der
Foren selbst zu gewährleisten. (Siehe das nebenstehende Interview mit Annie Pourre.)
Die
ESF’s haben sich an der Schaffung thematischer
Netzwerke beteiligt, die sich mit Fragen wie Gesundheit, Bildung, Verteidigung
der Öffentlichen Dienste, Prekarität, Frauenunterdrückung
und Einwanderung befassen. Netzwerke, die regelmäßig und menant
an Kampagnen und gemeinsamen Aktivitäten arbeiten.
Schließlich
hat die Generalversammlung der Sozialen Bewegungen, die im Rahmen der Foren
zusammenkommt, aber, ohne ihre Verantwortung zu implizieren, die Mobilisierung
gegen den Krieg und die Demonstrationen vom 15. Februar 2003 gestartet, an
denen sich mehr als fünfzehn Millionen Demonstranten in der Welt beteiligten.
Ebenso war das ESF Träger der Mobilisierung gegen die Bolkestein-Richtlinie
und der Demonstration in Brüssel am 19. März 2005.
Heute
reichen diese Errungenschaften allerdings nicht mehr aus, um allein die
Dauerhaftigkeit des ESF zu gewährleisten. Davon zeugt ein Rückgang der
Teilnehmerzahl bei den Vorbereitungstreffen insbesondere im gewerkschaftlichen
Bereich. Die ESF’s besitzen eine Besonderheit
hinsichtlich anderer kontinentaler Foren: Die Europäische Union intensiviert in
einer Reihe von Fragen die <wirtschafts->liberale Politik der Standortverlagerung, der Infragestellung
der Öffentlichen Dienste sowie der sozialen und demokratischen Rechte. Dies
verleiht im Übrigen der Politik, die in den verschiedenen Ländern der
Europäischen Union verfolgt wird, selbst dann eine gewisse Homogenität, wenn
die praktische Umsetzung dieser Politik häufig nach dem eigenen Rhythmus eines
jeden Landes erfolgt und daher die Organisation von Mobilisierungen auf
europäischer Ebene erschwert. Im Gegenzug müssen die Foren ein nützliches
Element sein, um die Mobilisierungen und die Widerstände gegen die Politik der
Europäischen Union und der verschiedenen Regierungen zu entwickeln. Andernfalls
werden sich die Dinge anderswo abspielen und die Foren ihre Glaubwürdigkeit
verlieren.
Antiliberalismus
Um
zu beginnen, impliziert dies, dass man sich die Mittel schaffen muss, um dort
die Präsenz der vielfältigen militanten <hier: engagierten / kämpferischen> Praktiken, der vielgestaltigen Mobilisierungserfahrungen,
die meist Land für Land entsprechend den Eigenarten zu Tage getreten sind, zu
gewährleisten und zwar mit dem Ehrgeiz, echte Synergien zu schaffen. Insbesondere,
um ihnen eine europäische Dimension und eine Sichtbarkeit zu verleihen. Damit
das wirklich möglich ist, müssen die Sozialforen allerdings stärker in der
nationalen, regionalen und lokalen Wirklichkeit verankert werden, so dass sie
auf all diesen Ebenen die Gesamtheit der Widerstände gegen den Liberalismus
zusammenfassen. Andernfalls ist das Risiko groß, auf europäischer Ebene einen
von der Wirklichkeit der Bewegung und von den sozialen Kämpfen abgekoppelten Mechanismus
zu schaffen.
Dies
vorausgeschickt, kann sich das ESF nicht darauf beschränken, ein einfacher Ort
der Konvergenz <Annäherung> der real-existierenden
Kämpfe in Europa zu sein. Es muss auch ein Ort sein, der zum Entstehen von
Mobilisierungen gegen den harten Kern der, von der Europäische Union betriebenen Politik beiträgt, die – um nur zwei Beispiele zu
nennen – in der Bolkestein-Richtlinie und dem Europäischen
Verfassungsvertrag besteht. Man muss jedoch zugeben, dass das ESF bei dieser
letzteren Frage nur eine Nebenrolle gespielt hat. Heute und in den kommenden
Jahren wird die entscheidende Frage darin bestehen festzustellen, ob die
konsequenten antiliberalen Kräfte nach dem Beispiel der europäischen Hafenarbeiter
oder der „Nein“-Kampagne
der Linken gegen die EU-Verfassung erfolgreiche Mobilisierungen initiieren
können, in denen das ESF voll und ganz seinen Platz hat.
Gefahr
Auch
wenn das ESF in erster Linie für die Mobilisierungen und für all jene, die hier
täglich kämpfen, ein nützliches Instrument sein muss, muss es parallel dazu,
auch ein Rahmen sein, der es erlaubt, die strategische Debatte zu vertiefen.
Eine Debatte, die im Augenblick ziemlich oberflächlich bleibt und bei den
Mitteln verharrt, die eingesetzt werden sollen, um die von den sozialen
Bewegungen und die Mobilisierungen gestellten sozialen Forderungen
durchzusetzen. Es ist nicht das Ziel, dafür zu sorgen, dass alle Welt
einverstanden ist, sondern dafür zu sorgen, dass die Debatte keine exklusive
ist und ohne Tabus stattfindet. Auf die Art ist es dann nicht mehr möglich, die
Reflektion über die Notwendigkeit der sozialen Aneignung als Alternative oder
nicht zur Privatsache zu machen, um auch sehr wesentliche Probleme zu lösen,
wie die Unterernährung, die Epidemien oder die Wohnungskrise. Parallel dazu
kann die Frage „Wer beschließt und wer kontrolliert?“ insbesondere nach
den unglücklichen Erfahrungen der Vergangenheit <siehe die SWP- und Livingstone-Dominanz
beim ESF in London 2004> nicht mehr umgangen
werden.
Schließlich
muss man das quälende Problem der Teilnahme der politischen Parteien am ESF
lösen. Die Charta von Porto Alegre, die die
politischen Parteien von der Organisation der Sozialforen ausschließt, ist
faktisch null und nichtig und führt zum Teil zur Heuchelei. Tatsächlich hat
diese Regel, über die massive Präsenz der <brasilianischen>
Arbeiterpartei (PT) hinaus, die Führer der politischen Parteien nicht daran
gehindert, die Reise nach Porto Alegre anzutreten, um
sichtbar zu sein und billig mediale Aufmerksamkeit zu erzielen, die ihnen
anderswo nicht zu teil wurde, um die von ihrer Partei praktizierte Politik zu
erklären und zu rechtfertigen, die häufig den vom Weltsozialforum zur Schau
gestellten Zielsetzungen widersprach.
Konvergenz
Die
anfängliche Absicht war gewiss lobenswert: Eine Instrumentalisierung der Foren
durch politische Parteien oder ihre Umwandlung in ein Schlachtfeld zwischen
politischen Strömungen zu verhindern. Das Problem ist real, wie man im Rahmen
der Vorbereitungstreffen des ESF sieht, wo kleine Gruppen sie nur als politische
Tribüne benutzen wollen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass die Foren sich
mit guten Durchführungsregeln ausstatten. Die politischen Kräfte aber nicht mit
einzubeziehen, die sich der Bekämpfung der Globalisierung verschreiben, ist ein
doppelter Fehler. Zuerst einmal, weil dies eine verheerende Vorstellung verstärkt,
der zufolge die sozialen Bewegungen sich mit den sozialen Mobilisierungen
beschäftigen und die politischen Parteien mit den Fragen der Macht, während das
Problem vielmehr darin besteht, eine Alternative zum Liberalismus und zum
Sozial-Liberalismus zu schaffen, eine emanzipative Perspektive
zu verteidigen, ohne dass man heute bereits die Formen kennt, die diese in
einem Prozess annehmen wird, der Akteure der Gewerkschaftsbewegung, der sozialen
Bewegung sowie Aktivisten politischer Parteien umfasst. Und ferner, weil die
wichtigsten Mobilisierungen der letzten Jahre (sei es gegen den Krieg, gegen
die Bolkestein-Richtlinie, gegen die EU-Verfassung
oder gegen den Ersteinstellungsvertrag CPE) im Rahmen von Bündnissen
durchgeführt wurden, die soziale Bewegungen, Gewerkschaften und politische
Parteien umfassten. Um die Lehren aus diesen Mobilisierungen zu ziehen, um sie
fruchtbar werden zu lassen, müssen sich alle Beteiligten im gleichen Rahmen wiederfinden. Das ESF muss ein solcher Rahmen oder
zumindest einer von ihnen sein.
Athen
wird, was die Teilnahme und die Qualität der Debatten anbelangt, die dort
stattfinden werden, mit Sicherheit ein Erfolg. Die Zukunft des ESF ist jedoch
nicht gewährleistet, wie im übrigen die Tatsache enthüllt, dass sich bis zum
heutigen Tag kein Land gemeldet hat, um das folgende zu organisieren, während
sich bei ersten vier alle Welt danach drängte. Jede Rückentwicklung wäre
schädlich und alle Bestandteile des ESF sind dafür verantwortlich, ihm einen
zweiten Aufschwung zu verschaffen, indem es in jedem der Länder verankert,
indem seine soziale und geographische Erweiterung betrieben und indem ein
echter Ort des Austausches und der Auseinandersetzung über alle Fragen daraus
wird, die die Bekämpfung des Liberalismus berühren. Besonders empfiehlt es
sich, ein echtes Zentrum von Initiativen daraus zu machen, die es ermöglichen,
die Gesamtheit der sozialen Widerstände zusammenfließen zu lassen und
Mobilisierungen auf europäischer Ebene gegen alle Dimensionen der Politik der
Europäischen Union zu initiieren.
Léonce Aguirre
Vorbemerkung,
Übersetzung aus dem Französischen und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG
der Uni Hannover