Gewerkschaftsforum Hannover:

 

Über die Gewerkschaftsbewegung in Nordafrika (Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten…) hört man hierzulande wenig, obwohl die EU ihre südliche Peripherie (neben Ländern wie Bulgarien, Rumänien oder der Türkei) als ihre Dumpinglohnzone, d.h. als Standort für ihre Schwitzbuden auserkoren hat. Eine erfreuliche Ausnahme bilden die Berichte von Bernhard Schmid (http://www.labournet.de/internationales/dz/wandel.html), doch der letzte Beitrag z.B.  im Labournet Germany stammt auch bereits von Anfang Juli 2006. Vielleicht wird der Draht ja im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel Anfang Juni 2007 in Heiligendamm enger. Soll dabei doch „den Stimmen aus dem Süden mehr Gehör“ verschafft werden.

Bereits jetzt brachte die Wochenzeitung „Rouge“ Nr. 2185 vom 15.Dezember 2006 der französischen Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR), die ein Stützpfeiler der französischen Anti- bzw. Alternativ“-Globalisierungsbewegung ist, ein Interview, in dem der linke Basisgewerkschafter Adel Abderrezak einen Überblick über die gewerkschaftliche Situation in Algerien gibt.

(Das Original findet sich unter http://www.lcr-rouge.org/imprimer_article.php3?id_article=5099 )

 

ALGERIEN:

 

Gewerkschaftliche Pluralität

 

Adel Abderrezak, Universitätsdozent und im Conseil national des enseignants du superior (National der Lehrkräfte höherer Schulen – CNES) aktiver Gewerkschafter berichtet über die gewerkschaftlichen Kämpfe in Algerien.

 

Haben die Kämpfe der letzten Jahre die Kräfteverhältnisse in Algerien verändert?

 

Adel Abderrezak:  „Die Situation ist für die Kämpfe ungünstig, denn das Regime von Bouteflika hat die politischen Freiheiten reduziert, indem es das Betätigungsfeld der Parteien, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht eingeschränkt hat und jegliche Berichterstattung in den Medien (insbesondere im Fernsehen) darüber verhindert. Die bleibt ein Monopol des Präsidenten. Trotz eines allgemeinen Klimas der Resignation, des gewitzten Sich-Durchschlagens der Einzelnen, der Geschäftemacherei und der fanatischen Plünderung für die Anderen bleibt das soziale Terrain durch den Widerstand und die Vervielfältigung der Kampferfahrungen geprägt. In den letzten Monaten haben die Kämpfe im Bildungswesen – mit autonomen Gewerkschaften, wie dem CNES, dem Conseil des Lycées d’Algier (Rat der Gymnasien von Algier – CLA) und dem CNAPEST <Autonomer landesweiter Rat der Lehrer an Oberstufen- und Berufsschulen> – die Dinge durch Streiks, die ein Beispiel an Mut und Legitimität waren, in Bewegung gebracht. In einem weniger sichtbaren Maße ist das auch bei Gewerkschaften der Fall, die der Gewerkschaftszentrale UGTA (Union Génerale des Travailleurs Algériens – Allgemeine Arbeiterunion Algeriens; Anm.d.Red.) angehören, die mit Besetzungen, die manchmal mehrere Monate dauern, gegen die Privatisierung ihrer Unternehmen kämpfen. Der Zoll, die Häfen und das Erziehungswesen haben eindrucksvolle Streiks erlebt, die durch die Führung der UGTA allerdings schnell widerrufen / desavouiert wurden. Die die wichtigsten Gewerkschaftsführer <in diesen Sektoren> wurden durch die UGTA-Spitze gemaßregelt. Diese Kämpfe führten zu Lohnerhöhungen im Öffentlichen Dienst, im öffentlichen und privaten Sektor. Die Regierung ist zurückgewichen und hat Gerichtsverfahren gegen Gewerkschafter eingestellt oder die Rechtmäßigkeit des CNES-Streiks durch den Staatsrat anerkannt. Diese partiellen, aber symbolträchtigen Erfolge zeigen eine Widerstandsfähigkeit der Gewerkschaften und des kämpfenden Sektors gegenüber der Macht.“

 

Welche Rolle spielt die Entwicklung der UGTA und der Aufbau autonomer Gewerkschaften dabei?

 

Adel Abderrezak:  „Die UGTA ist die einzige von der Macht anerkannte Gewerkschaftszentrale. Sie ist seit der Unabhängigkeit <im Juli 1962> in allen Teilen der Wirtschaft präsent und spielt bei sozialen Konflikten die Rolle des Stoßdämpfers. Die UGTA folgte der Macht sowohl in ihren populistischen Perioden als auch heute bei ihrer, vom IWF diktierten, liberalen Politik. Wichtige Sektoren der Arbeiter und der Beamten haben daher versucht sich unabhängig zu organisieren. Die Lehrkräfte der höheren Schulen haben ihre SNES-SUP und den CNES, die im Laufe eines langen Streiks entstanden. Hier wird trotz der von der Staatsmacht unternommenen Normalisierungsversuche weitergekämpft. Die Lehrer und das Personal der Oberstufen- und Berufsschulen sind nicht mehr ausschließlich in der UGTA. Sie haben sich ihre eigenen, unabhängigen Organisationen geschaffen, wie den CNES und die CNAPEST. Denselben Entwicklungsprozess gab es im Gesundheitswesen mit der Gründung von SNAPAP, die auch in der Verwaltung vertreten ist. Die Flugzeugpiloten, die Matrosen, die Feuerwehrleute und die Tierärzte haben sich außerhalb der UGTA organisiert. In der Industrie gibt es autonome gewerkschaftliche Erfahrungen. Dort sind sie, aufgrund der Zerbrechlichkeit der Unternehmen und der stattfindenden Privatisierungen allerdings sehr viel schwieriger.

 

Man zählt ungefähr 70 autonome Gewerkschaften in Algerien, die allesamt weder repräsentativ noch wirklich autonom sind. Bei bestimmten dürfen die Tarifforderungen, die sie stellen, ihre zweideutigen Beziehungen zur Macht und zu deren liberaler Politik nicht außer acht lassen. Außer beim CNES, dem CLA, dem CNAPEST und – in einem geringeren Maße – bei SNAPAP ist, unter Berücksichtigung der ökonomischen und sozialen Aktionen, keine klare gewerkschaftliche Identität auszumachen. Die gewerkschaftliche Zersplitterung stellt für die Umgruppierung und Zentralisierung der Kämpfe ein Problem dar. Die durch die Einheitspartei geschaffene Einheitsgewerkschaft hat allerdings Kämpfe und ebenso zahlreiche kämpferische und radikale Gewerkschafter gebrochen. Die autonome Gewerkschaftsbewegung beteiligt sich durch ihre Kämpfe, ihre organisatorischen Erfahrungen und den gewerkschaftlichen und politischen Reifungsprozess ihrer Aktivisten am Aufbau demokratischer Gewerkschaftsorganisationen und einer Forderungen stellenden Tarifkultur in der Welt der Lohnabhängigen.“

 

Vorbemerkung, Übersetzung aus dem Französischen und Einfügungen in eckigen Klammern:

Gewerkschaftsforum Hannover