Antifa-AG der Uni Hannover:
Den
folgenden Bericht samt Stellungnahme zum ESF-Krisentreffen Mitte Dezember 2004
in Paris entnahmen wir dem Red Newsletter
134
(Informationsdienst des österreichischen
Gruppe ArbeiterInnenstandpunkt) vom 7.1.2005. Er
bildet eine gute Ergänzung zu dem weiter unten übersetzten Bericht aus „il manifesto“.
Weitere
Informationen zu den Autoren finden sich auf der Website: http://www.arbeiterinnenstandpunkt.net.
Europäisches Sozialforum ohne Plan
und Kampfstrategie
Stellungnahme
der LFI zum ESF-Vorbereitungstreffen in Paris, 18./19. 12. 2004
Eine ‚außerordentliche’ Versammlung des
Europäischen Sozialforums (ESF) fand in Paris am 18. und 19.12.04 statt. Mehr
als 300 TeilnehmerInnen von Sozialbewegungen,
Gewerkschaften und politischen Parteien aus mindestens 16 Ländern kamen an
diesem Wochenende zusammen. Trotz vieler Hoffnungen war diese Zusammenkunft
jedoch weder in ihrem Ablauf noch ihrem Ergebnis außerordentlich. Sie verlief
vielmehr wie all die anderen ESF-Vorbereitungstreffen undemokratisch und war
Zwängen unterworfen, die eine frührere Generation von
AktivistInnen ‚die Tyrannei der Unstrukturiertheit’
genannt hatte.
Wieder einmal übertönten dieselben Stimmen alle anderen. In der ersten Sitzung
brachte dies ein Mitglied des norwegischen Sozialforums auf den Punkt, als er
äußerte, er hätte in diesen Treffen niemals zuvor das Wort ergriffen, weil es
doch nichts bringen würde. Es ist kaum anzunehmen, dass seine Erfahrung bei
dieser Zusammenkunft seine Meinung geändert haben wird.
Eröffnet wurde die Sitzung mit einer Begrüßung durch einen Funktionär der
französischen KP-nahen Gewerkschaft CGT, die auch
eingeladen hatte. Das Engagement der Gewerkschaft in WSF und ESF sowie die
Notwendigkeit zur Zusammenkunft, Diskussion und Auswertung wurde betont. Danach
wurde die allgemeine Aussprache eröffnet. In 3 Minuten hatten über 70 Leute
ihren Namen auf die Rednerliste gesetzt. Trotz einer Reihe von Dokumenten, die
vorher die Runde gemacht hatten, von ATTAC Frankreich, ATTAC Europa, dem
italienischen Sozialforum und anderen, die das Londoner ESF ausgewertet hatten
und Vorschläge für die Zukunft der Bewegung, ihrer Organisationstreffen, der
Rolle der Parteien u.a. machten, hatte die
Versammlung keinen Schwerpunkt.
Ohne strukturierte Diskussion bzw. konkrete Vorschläge, die erörtert oder
abgeändert werden konnten, verkam die Veranstaltung zu einer endlosen
Aneinanderreihung von Statements. Die Liga für die 5.Internationale (L5I)
brachte eine Entschließung ein, die aber ebenso wie die vorausgegangenen
Versuche, einen roten Faden in das Chaos seit Florenz 2002 zu bringen,
ignoriert wurde.
Durchschaubarkeit, Einbezug und Demokratie waren die Schlagworte der
außerordentlichen Versammlung. Zur Hauptsache wurden sie von den französischen
und italienischen TeilnehmerInnen benutzt, um ihrer
Enttäuschung über den Verlauf des Londoner ESF und ihrer Absicht, dies in
Zukunft zu vermeiden, Ausdruck zu verleihen. Es war das bislang kleinste, am
bürokratischsten organisierte ESF. Sein Charakter war eher ausschließend als
einbeziehend. Die Teilnehmerzahl besonders aus dem Gastgeberland verriet dies.
Die Kontrolle des Ereignisses durch Beamte des Londoner Bürgermeisters Livingstone, durch den britischen sowie europäischen
Gewerkschaftsverband trieb die europäischen Organisatoren zu fortgesetzten
Zugeständnissen. London erlebte die größte Abgrenzung zu dem ‚horizontalen’
bzw. anarchistischen Flügel der Bewegung. Das führte zu einem Protest dieses
Teils, angeführt von den ‚Wombles’, was als ‚Gewalt’
verunglimpft wurde. Die Organisatoren gaben schändlicherweise auch einem
‚gewerkschaftlichen’ Unterstützer der irakischen Kollaborationsregierung unter Allawi eine Plattform. Und dies auf einer Veranstaltung,
die angeblich gegen den Krieg, Besatzung und Imperialismus gerichtet war! Aber
die dagegen protestierten, wurden der ‚Gewalt’ bezichtigt!
Die völlige Kapitulation der Socialist Workers Party (SWP) gegenüber Stadtverwaltung und
Gewerkschaftsbürokratie bedeutete, dass Beschlüsse, die auf den europäischen
Vorbereitungstreffen (dem höchsten Beschlussorgan) gefallen waren, von den
britischen Organisatoren oft geändert oder völlig übergangen wurden. So wurde
die Abschlusskundgebung als Antikriegs-Veranstaltung und ohne Bezug zum ESF und
zum Kampf gegen den Generalangriff auf die Arbeiterklasse und die
imperialistische EU-Verfassung angekündigt. Niemand vom ‚Kontinent’ durfte auf
die abschließende Rednertribüne.
Viel Kritik am Londoner ESF wurde über die elektronischen Foren vor der Pariser
Veranstaltung geäußert. Italienische Stimmen (v.a. Cobas, CGIL, FIOM und Rifondazione
Comunista) beklagten am heftigsten die britischen
Organisationsmethoden und die Unfähigkeit des britischen Komitees, die
Konflikte und Spannungen zu lösen, die zwischen den politischen Organisationen,
Gewerkschaften und den Basisorganisationen bestehen.
Die französischen Teilnehmer von ATTAC, LCR, G10 Solidaire
und FSU-Gewerkschaften argumentierten ähnlich. Die britische SWP hingegen mit
ihrem üblichen Optimismus bescheinigten dem Londoner Ereignis einen
Riesenerfolg und versuchten, die Schuld auf die ‚Horizontalen’ und ‚winzige
Sekten’ zu schieben, deren ‚Gewalt’ sie für die entstandenen Probleme verantwortlich
machten.
Doch während der ‚außerordentlichen Versammlung’ kam keine der wirklichen
politischen Differenzen offen zur Sprache. Alle Redner sprachen verschlüsselt
über ‚Ausgrenzung’ und Mangel an demokratischen Verfahren’, scheuten sich aber,
die ihrer Meinung nach wirklichen Drahtzieher zu benennen.
L. Cooper von Revolution, der
sozialistischen Jugendorganisation, brach schließlich mit diesem Herumreden um
den heißen Brei. Er entlarvte das undemokratische Auftreten der Socialist Action (Livingstones
Handlanger) und der SWP. Er beleuchtete ihre grundlegende Verantwortlichkeit
als Bremser einer wirklichen sozialen Massenbewegung in Britannien durch ihre
Politik der Zerstörung des Aufbau örtlicher
Sozialforen. Cooper verwies auf die wiederholten Versuche, die
Jugendversammlung als nebensächlich zu behandeln, als Beweis für den mangelnden
Willen von SWP und Socialist Action zur Einbeziehung
antikapitalistischer Jugendlicher. Trotz Revolutions regelmäßiger Anträge
und Proteste während des gesamten ESFs wurden junge
Leute völlig von den Plattformen in den Vollversammlungen ausgeschlossen.
Die Jugendversammlung zog trotz verweigerter Übersetzungshilfen und
Bekanntmachung sowie trotz des ihr zugewiesenen kleinen Veranstaltungsraums
fern ab vom zentralen Tagungsort Alexandra Palast, immerhin 200 Jugendliche an
und hat begonnen, ein Netzwerk von jungen Aktivisten in ganz Europa aufzubauen.
Der Tenor dieser Veranstaltung war, die ‚Methodologie’ der ESF-Abläufe
durchgreifend zu ändern. Aber die verschiedenen Teile der Bewegung entwickelten
auch verschiedene Ideen über die Art von Reform des ESF. Die Position der
französischen LCR, dargestellt von P. Kalfa,
befürwortete eine politische Verstärkung, die Ausweitung der ‚Andere Welt’-Bewegung, aber nicht unbedingt eine offenere oder
demokratischere Form des ESF, d.h. sie wollen das ESF weiter steuern können.
Der italienische Teil, am pointiertesten vorgetragen
von R. Bollini, wollte die Überprüfung der
Methodologie des ESF, um die Bewegung verbreitern und unterschiedliche
Netzwerke und Kämpfe mit einbeziehen zu können. L. Muhlbauer
<Sin.Cobas
und 4.Internationale> glaubte die
ersten Anzeichen von Institutionalismus im Londoner ESF erkannt zu haben. Die
Italiener wollen mehr Demokratie, aber an einem streng sozialen statt
politischen ESF-Modus festhalten.
Die SWP will die Bewegung als spezielle Einheitsfront erhalten, d.h. den
reformistischen Flügel an Bord hieven und ihn nicht durch Kritik verschrecken.
Er soll seine Bedingungen erfüllt bekommen, wenn die SWP in Britannien weiter
unbehelligt die Kontrolle ausüben darf und ihre Parteiaufbaupläne nicht gestört
werden.
Diese perspektivischen Differenzen spitzten sich in der samstagabendlichen
Arbeitsgruppe zu. Trotz angeblicher Offenheit wollten die Vorsitzenden den
Teilnehmerkreis auf ‚Delegationen’ von nationalen Gruppen beschränken. Ihr
Auftrag war, alle im Tagesverlauf geäußerten Veränderungswünsche aufzulisten.
Der französische Teil wollte die Diskussion zusammenfassen und zur
Vollversammlung mit einer Reihe von bereits vereinbarten Vorschlägen kommen.
Alles, um einer Debatte zwischen entgegen gesetzten Vorschlägen und einer
demokratischen Entscheidung auszuweichen. Die Italiener wollten alle Anträge
mit gleichem Stimmrecht in der Versammlung abstimmen lassen. Schließlich
bündelte S. Zafari von der LCR am nächsten Tag eine
Reihe von Anträgen und ließ dabei wie üblich die weitest
gehenden einfach weg. In diesem elenden undemokratischen Verfahren entscheidet
am Ende nur die Kontrolle über den Versammlungsvorsitz. An dieser Methodologie
ist nichts Integratives, Rechenschaftspflichtiges oder Demokratisches! Wie
Victor Adlers berühmter Spott über das österreichische kuk-Reich
vor 1914 ist dies der ‚Despotismus maskiert als Schlamperei’.
Die Liga für die 5.Internationale <L5I> brachte
eine Entschließung in die Versammlung ein, worin sie einen gewählten
provisorisch geführten ständigen Ausschuss fordert, der offen und transparent
sein muss, damit klar ist, wer welche Entscheidungen trifft. Aufgabe dieses
Ausschusses sollte sein, Vorschläge und die Organisation für die Versammlung
der sozialen Bewegungen zu unterbreiten bzw. voranzutreiben, die
abstimmungsfähig sind. Er sollte auch eine umfassende Kampagne des Widerstandes
und tragfähiger Aktionen gegen den neoliberalen Kapitalismus, Imperialismus und
Krieg anleiten. Das würde die immer noch starke Neigung zur
Nationalzentriertheit überwinden und die Bewegung aus mindestens europäischer
oder sogar Weltsicht betrachten helfen. Es würde solche Konflikte wie aus
Anlass der Demonstrationen am 19.3. vermeiden, als die Versammlung der sozialen
Bewegungen zu einer europäischen Mobilisierung gegen die neoliberalen Attacken
und Kriege aufrief, aber die SWP sich ‚heraushielt’ und alle IST-Sektionen zwang, nationale Antikriegsdemonstrationen zu
veranstalten.
Obwohl die Resolution nicht behandelt wurde, wurde die Notwendigkeit eines
Ausschusses (natürlich keines gewählten) von S. Zafari
in ihre Zusammenfassung mit aufgenommen. Merci!
Die ins Auge gefasste Kommission würde sich in 2 Gruppen aufteilen: eine, die
sich mit der Frage der Methodologie und Programmentwicklung befasst, die andere
würde sich mit der Funktionsweise und Vorbereitung der europäischen
Vorbereitungsversammlung für das Forum in Athen 2006 beschäftigen. Diese
Arbeitsgruppen sollen dann ihre Vorschläge gemeinsam beraten. Dieses Kommission
trifft sich am 15./16.1.2005 in Brüssel, gleichzeitig mit einem
Vorbereitungstreffen für die Demonstrationen am 19.3.2005.
J. Nikonoff von Attac
Frankreich, der klar zum rechten Flügel der Bewegung zu zählen ist, sprach sich
gegen eine Kommission aus, aus Furcht, daraus könne so etwas wie eine
internationale Führung entstehen. Er versuchte auch, die Nützlichkeit eines
solchen Ausschusses zu entwerten, indem er empfahl, jeder solle sich dort als
Mitglied anmelden. Obwohl diese Haltung nach ‚Horizontalismus’
aussieht, steckt dahinter natürlich das durchsichtige Bestreben, die
Arbeitsfähigkeit und Verantwortlichkeit einer Arbeitsgruppe zu untergraben. Um
noch zu unterstreichen, wie weit nach rechts sich die SWP bewegt hat, schmeichelte
A. Callinicos von der SWP Nikonoff
noch, indem er ihm die Vernunft seines Beitrages bescheinigte.
Bezeichnenderweise argumentierten sowohl Nikonoff wie
auch P. Barge von der französischen Liga für
Menschenrechte für den separierten Auftritt von politischen Parteien auf dem
ESF, nachdem diese zuvor ja von offener Teilnahme ausgeschlossen worden waren.
Sie redeten verächtlich von deren Literaturverkäufern und Transparenten und
brachten dann die Idee ein, dass dies in nur einem abgetrennten Raum, einer Art
Ghetto, auf dem Forum zu geschehen hätte.
Das nächste ESF wird 2006 in Athen stattfinden. Es gibt im Vorfeld bereits
Auseinandersetzungen darüber in der griechischen Bewegung. P. Bernocchi <Confederazione Cobas-
und Cobas-Scuola-Sprecher> trat dafür ein, dass eine Delegation der
europäischen Versammlung in der Vorbereitung tätig wird, um eine größere
Teilnehmerzahl und Einbeziehung in das ESF zu erreichen.
Weitere Vereinbarungen:
- das ESF soll künftig im 2-Jahres-Rhythmus statt jährlich stattfinden.
- ein antirassistisches Netzwerk ist gegründet worden und wird auf jeder
Vorbereitungsversammlung vertreten sein.
- das nächste Vorbereitungstreffen findet vom 25-27.2. in Athen statt.
- das südeuropäische Sozialforum wird am 15./16.1. abgehalten. Aber keine
Entscheidung, ob am 20.3. ein Antikriegsmarsch stattfindet. Das
Antikriegstreffen wurde in die Mittagszeit eingeschoben und hat den Antrag der
Liga für die 5.Internationale nicht behandelt
- alles in allem schaffen es diese Treffen es nicht einmal, die wirklich
wichtigen Fragen unserer Bewegung zu diskutieren. Was tun
gegen die neoliberale Offensive der deutschen, britischen, französischen und
italienischen Regierungen? Was tun gegen die Offensive der Großkonzerne durch
Massenentlassungen, Verlagerung in Billiglohn- und Außer-EU-Zonen
und Senkung der Reallöhne? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden zur
Beendigung der Besetzung des Irak und Palästinas?
- trotz Anwesenheit von Vertretern einiger der linkesten
Gewerkschaften in Europa wurden die Probleme der jüngsten Vergangenheit für die
deutschen und italienischen ArbeiterInnen, wie der
1-tägige Generalstreik in Italien nicht ernsthaft erörtert. Stattdessen wurde
eine Nabelschau über Verfahren und ESF-Entwicklung veranstaltet. Wahrlich
beklagenswert!
- trotz der Störungsversuche der politischen Hauptkräfte, die das ESF als ihre
Geisel betrachten – hinter einer libertären Fassade –
wird die L5I weiterhin dafür eintreten, dass diese Bewegung sich auf den Aufbau
einer aufeinander abgestimmten und kämpferischen Antwort gegen unsere Feinde
und eine einschneidend veränderte Struktur orientiert, die solche Diskussionen
und Entscheidungen ermöglicht.